Angesichts der neuen Krise in den französisch-algerischen Beziehungen sowie der Lage in Mali an der algerischen Grenze hatten wir die Gelegenheit, mit Akram Kharief zu sprechen, einem algerischen Journalisten und Forscher im Bereich Sicherheit und Verteidigung, der uns die algerische Perspektive schildert. Das Interview führte Denys Kolesnyk, französischer Berater und Analyst, Präsident des MENA Research Center.
Am 20. April kündigte die algerische Präsidentschaft eine Sitzung des Ministerrates unter Vorsitz von Präsident Tebboune an, in der ein Gesetzentwurf über die allgemeine Mobilmachung verabschiedet wurde. Ziel des Gesetzes ist es, die Maßnahmen Algeriens in Bezug auf Mobilmachung, Notlagen und möglicherweise Krieg zu verstärken. Können Sie uns die Gründe für die Annahme dieses Gesetzes sowie dessen zeitliche Einordnung erklären?
Genau genommen handelt es sich hierbei nicht um ein neues Gesetz, sondern um eine Änderung von Artikel 99 der Verfassung, der die allgemeine Mobilmachung regelt. Bislang galt dieser Artikel als sowohl vage in seiner Formulierung als auch starr in seiner Anwendung, insbesondere weil er die Mobilisierung zahlreicher institutioneller Akteure erforderte, um eine solche Entscheidung auszulösen.
In seiner ursprünglichen Fassung verlangte Artikel 99 eine gemeinsame Entscheidung des Regierungsrates und des Sicherheitsrates, begleitet von der Stellungnahme des Präsidenten des Senats sowie des Präsidenten der Nationalversammlung. Der gesamte Prozess beruhte also auf einem breiten politischen Konsens.
Welcher konkrete Gesetzentwurf nun angenommen wurde, ist derzeit noch unklar, doch zwei Optionen erscheinen möglich. Die erste wäre eine Vereinfachung des Verfahrens durch Reduzierung der beteiligten Akteure — möglicherweise auf den Sicherheitsrat allein oder auf den Regierungschef unter Einbeziehung der Präsidenten der beiden Kammern. Die zweite Option würde hingegen eher einer Logik der demokratischen Stärkung folgen, ähnlich dem Verfahren zur Entsendung von Truppen ins Ausland, das mit der Verfassungsreform von 2022 eingeführt wurde. Dabei wäre ein obligatorischer Durchlauf durch beide Kammern des Parlaments für jede Entscheidung über eine allgemeine Mobilmachung vorgesehen. Doch bislang gibt es dazu noch keine Klarheit.
Der Zeitpunkt dieser Entscheidung ist besonders bedeutsam. Sie hat dazu beigetragen, sowohl die öffentliche Meinung als auch die politische Debatte in Algerien zu beeinflussen. Tatsächlich steht das Land vor einer Zunahme von Spannungen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft, und das Timing dieser Initiative wirft Fragen auf. Es könnte auf eine Eskalation oder Zuspitzung in der Region hindeuten, wenngleich dies bisher nicht bestätigt ist.
Algerien sieht sich derzeit einer Reihe sensibler Probleme gegenüber: anhaltende Streitigkeiten mit Mali, Besorgnis über die Präsenz der Wagner-Gruppe, angespannte Beziehungen zu Marokko sowie Spannungen mit bestimmten libyschen Fraktionen. In diesem Kontext könnte diese Entscheidung als Versuch des Regimes interpretiert werden, die Reihen im Inneren zu schließen und die nationale Meinung auf eine Haltung der Entschlossenheit oder Wachsamkeit angesichts eines als instabil wahrgenommenen regionalen Umfelds einzuschwören.
Zudem sollte nicht vergessen werden, dass die algerische Regierung dazu neigt, durch Dramatisierung die innere Geschlossenheit zu sichern und Debatten oder Widersprüche zu unterdrücken.
Lassen Sie uns über die diplomatische Krise zwischen Frankreich und Algerien sprechen, die nur zwei Wochen nach Hoffnungen auf eine Annäherung wieder aufgeflammt ist. Emmanuel Macron ordnete die Ausweisung von zwölf algerischen Konsulatsmitarbeitern an und rief den französischen Botschafter zurück, als Reaktion auf eine ähnliche Maßnahme Algeriens. Können Sie uns Ihre Sicht auf die Ursachen der schon länger stagnierenden französisch-algerischen Beziehungen schildern?
Die aktuelle Krise zwischen Frankreich und Algerien geht auf die französische Entscheidung zurück, Marokkos Souveränität über die Westsahara anzuerkennen. Dieser Schritt wurde in Algerien als Wendepunkt wahrgenommen und löste eine Reihe angespannter, teils scharfer Auseinandersetzungen zwischen Algier und Paris aus. In der Folge verschärften sich die Spannungen, insbesondere durch die Haltung von Innenminister Bruno Retailleau in Bezug auf die OQTF (obligation de quitter le territoire français, Verpflichtung zur Ausreise) sowie andere bilaterale Streitpunkte.
Einer der auffälligsten Vorfälle war die Abschiebung einer einflussreichen algerischen Persönlichkeit aus Frankreich, deren Abschiebung jedoch von einem französischen Gericht aus Verfahrensgründen aufgehoben wurde. Dieser Vorfall bestärkte auf algerischer Seite die Wahrnehmung, dass sich die Krise nicht zwischen den Staaten selbst, sondern zwischen Algerien und einem bestimmten Teil des französischen politischen Spektrums — namentlich der extremen Rechten — abspielt. Allerdings wurde der Innenminister, obwohl der Rechten zugeordnet, in Algerien als Verkörperung dieser feindlichen Haltung angesehen, was die Spannungen weiter verschärfte.
Es gab dennoch einen Versuch der Entspannung. Am 1. April veröffentlichten die Präsidenten beider Länder eine gemeinsame Erklärung, die eine Rückkehr zur Normalität sowie konkrete Verpflichtungen ankündigte, darunter französische Investitionen und eine Wiederaufnahme der sicherheits- und justizpolitischen Zusammenarbeit. In diesem Rahmen wurde auch ein Fortschritt bei konsularischen Fragen erwartet, insbesondere bei der Ausstellung von Rückführungspapieren.
Doch nur wenige Tage später wurde dieser positive Trend durch einen neuen Vorfall unterbrochen: ein algerischer Dissident, der sich in Frankreich im Exil befand und in beiden Ländern wegen schwerwiegender Delikte strafrechtlich verfolgt wurde, soll Ziel eines Entführungsversuchs auf französischem Boden gewesen sein. In die Ermittlungen war ein algerischer Konsulatsmitarbeiter verwickelt, dessen Mobiltelefon in der Nähe der Wohnung des Dissidenten geortet worden war. Dies allein reichte aus, um seine Festnahme durch die französischen Behörden zu rechtfertigen — sehr zum Zorn Algiers, das darin einen Verstoß gegen das diplomatische Recht sah.
Als Reaktion darauf wies Algerien mehrere französische Agenten aus, die vermutlich dem Innenministerium angehörten. Frankreich antwortete seinerseits mit der Ausweisung von zwölf algerischen Agenten. Dieses letzte Ereignis befeuerte erneut das in Algerien vertretene Argument, dass bestimmte französische Akteure — insbesondere im Innenministerium — die Versöhnungsbemühungen der beiden Staatschefs sabotieren.
Historisch gesehen ist diese Dynamik nicht neu. Bereits unter Jacques Chirac wurde ein französisch-algerischer Freundschaftsvertrag diskutiert, der die wirtschaftlichen und menschlichen Beziehungen stärken sollte. Doch dieses Vorhaben wurde durch die Verabschiedung eines französischen Gesetzes, das die „Vorzüge“ der Kolonisation hervorhob, vereitelt und führte zu einem klaren Bruch.
Auf beiden Seiten lässt sich also ein Wechselspiel beobachten zwischen politischem Willen zur Annäherung und feindlichen Aktionen bestimmter Akteure innerhalb des Staatsapparats, was eine dauerhafte Normalisierung der Beziehungen langfristig erschwert.
Welche konkreten Schritte könnten Ihrer Meinung nach die beiden Länder unternehmen, um Vertrauen wiederaufzubauen, insbesondere im Bereich der Wirtschafts- und Sicherheitskooperation? Und inwiefern könnten innere Dynamiken in Frankreich und Algerien diese Bemühungen erschweren?
Die Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien lassen sich nicht durch das klassische Prisma der Entwicklungshilfe oder wirtschaftlicher Unterstützung verstehen. Algerien ist kein armes Land. Es sucht weder nach finanzieller Hilfe noch ist es auf ausländische Investitionen angewiesen, um seine Stabilität zu gewährleisten. Diese Feststellung, die in Frankreich oft vergessen wird, hat eine doppelte Bedeutung: Einerseits räumt sie mit dem Missverständnis auf, der französische Steuerzahler müsse für gute bilaterale Beziehungen „bezahlen“. Andererseits erschwert sie die Deutung der aktuellen Spannungen, indem sie deren zutiefst politischen, erinnerungspolitischen und symbolischen Charakter offenlegt.
Die verbleibenden Differenzen zwischen den beiden Ländern sind Teil der langen Geschichte der Kolonisation. Aus algerischer Sicht hat Frankreich die Verbrechen der kolonialen Vergangenheit noch nicht vollständig anerkannt, so wie es bei anderen dunklen Kapiteln seiner Geschichte geschehen ist – etwa bei der Kollaboration während des Zweiten Weltkriegs oder der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Algerien trägt noch immer die Narben von 132 Jahren kolonialer Herrschaft, wirtschaftlicher Ausbeutung und massiver Gewalt sowie die fortdauernden Folgen der Atomtests, die vor und nach der Unabhängigkeit auf seinem Boden durchgeführt wurden.
In diesem Zusammenhang könnte eine starke symbolische Geste Frankreichs, etwa eine klare Anerkennung der Verbrechen der Kolonialzeit, einen wichtigen Fortschritt darstellen. Dabei geht es nicht darum, das heutige Frankreich anzuklagen, sondern vielmehr darum, eine Erinnerungs-Schuld zu begleichen – so, wie es bei anderen historischen Themen bereits geschehen ist. Ebenso bleibt die Frage der Dekontaminierung ehemaliger Atomtestgelände ein sensibles Thema. Es geht weniger um finanzielle Entschädigungen als vielmehr um die Übernahme von Verantwortung, technische Zusammenarbeit und die Anerkennung der Fakten.
Sobald diese symbolische Grundlage geschaffen ist, könnte eine neue Form der Partnerschaft in Betracht gezogen werden. Ein Freundschaftsvertrag könnte die Basis für eine strukturierte und dauerhafte Zusammenarbeit legen, etwa durch langfristige gemeinsame Projekte beider Länder. Dazu könnten strategische Energieinfrastrukturen gehören, wie ein Gaspipeline-Projekt, oder Kooperationen im Bereich der zivilen Nutzung der Atomenergie auf Basis von wirtschaftlichen Modellen ähnlich dem „Land-Lease“-Prinzip. Ziel wäre es, eine Form positiver gegenseitiger Abhängigkeit zu schaffen, die beide Länder über einen Zeitraum von zwanzig oder dreißig Jahren miteinander verbindet.
Neben diesen Fragen von Souveränität und Erinnerung bleibt die Migration ein Spannungsfeld. In Frankreich wird die Debatte dominiert von der Kritik an illegaler Einwanderung und den Defiziten bei der Umsetzung der Ausreiseverpflichtung (OQTF). Dabei wird jedoch oft übersehen, dass Frankreich massiv von den algerischen Eliten profitiert: Tausende Ärzte, Ingenieure und Fachkräfte, die Algerien mit großem Aufwand ausgebildet hat, tragen heute wesentlich zum Funktionieren des französischen Gesundheitssystems bei. Diese „Abwanderung von Fachkräften“, die oft als individuelle Chance dargestellt wird, bedeutet gleichzeitig einen erheblichen Verlust für das Herkunftsland.
Wenn Frankreich einen aufrichtigen Dialog über Migrationsfragen führen will, muss es auch diese Asymmetrie anerkennen. Es könnte zum Beispiel die medizinische Ausbildung in Algerien unterstützen oder in lokale Fachstudiengänge investieren, um Perspektiven für diejenigen zu schaffen, die sonst auswandern würden. Es geht dabei nicht darum, Mobilität einzuschränken, sondern darum, die Bedingungen für eine echte Wahl zu schaffen — und nicht den Zwang zur Auswanderung.
Aber über Migration zu entscheiden, ist doch letztlich Sache des Einzelnen, nicht des französischen Staates. Man kann also nicht behaupten, Frankreich zwinge Nordafrikaner dazu, nach Frankreich auszuwandern, oder?
Da stimme ich Ihnen vollkommen zu. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass die algerischen Behörden – ebenso wie die in Marokko und Tunesien – weder die Migration von Straftätern noch die von Ärzten ablehnen. Für mich stellt sich aber die Frage der Kohärenz der französischen Politik, die das eine beklagt, während sie vom anderen profitiert. Eine gemeinsame, ausgewogene und klare Herangehensweise ist möglich. Dafür braucht es ein geteiltes Verantwortungsbewusstsein, gegenseitige Anstrengungen und ein echtes gemeinsames Projekt auf beiden Seiten des Mittelmeers.
Zusammenfassend: Um die französisch-algerischen Beziehungen neu zu beleben oder auf einen besseren Weg zu bringen, sollte der Schwerpunkt also eher auf symbolischen als auf finanziellen Aspekten liegen?
Ja, genau.
Ich möchte noch einmal auf die Anerkennung der marokkanischen Souveränität über die Westsahara durch Frankreich im Oktober 2024 zurückkommen. Wie wirkt sich diese Entscheidung auf den regionalen Einfluss Algeriens und seine Beziehungen zu anderen Maghreb-Staaten wie Tunesien und Mauretanien aus?
Zunächst einmal ist der Autonomieplan für die Sahara, den Marokko heute vorantreibt, eine französische Erfindung. Er entstand Ende der 1920er Jahre in Frankreich, aus dem Wunsch heraus, diesen Konflikt zu lösen. Algerien war dabei von Anfang an außen vor; es gab also einen gewissen Grundbias, auch wenn offiziell Neutralität betont wurde. Dieser Bias war aber real. Frankreich wollte das schon immer.
Dass es nun diese offizielle Erklärung gibt, ändert im Grunde wenig. Algerien betrachtete die französische Haltung ohnehin immer als eine Art französisch-französische Kosmetik.
Was Frankreich betrifft, glaube ich, dass die Ankündigung nur ein Vorwand war, um die Krise auszulösen. Ansonsten hat sie nicht viel verändert, solange Mauretanien weiterhin die Demokratische Arabische Republik Sahara anerkennt und Tunesien seine neutrale Position in dieser Frage beibehält. In Bezug auf die Beziehungen zwischen den Maghreb-Staaten hat sich also wenig geändert.
Natürlich hat diese Entwicklung die Spannungen zwischen Algerien und Marokko verschärft. Aber Algerien strebt nicht unbedingt die Unabhängigkeit der Westsahara an. Vielmehr will Algerien, dass das umgesetzt wird, was zwischen der Polisario-Front und Marokko unter der Schirmherrschaft der UNO vereinbart wurde: nämlich die Durchführung eines Referendums. Dieses Referendum könnte durchaus auch zur Autonomie oder sogar zur Integration in Marokko führen. Und in diesem Fall hätte Algerien nichts dagegen.
Wenden wir uns nun der Innenpolitik Algeriens zu. Im vergangenen Jahr hat die Regierung Tebboune anti-französische Rhetorik genutzt, um ihre eigene Legitimität angesichts von Vorwürfen des Wahlbetrugs zu stärken. Welche Rolle spielt das Thema Frankreich in der algerischen politischen Debatte? Und welche Rolle spielt die Armee bei der Definition der Innen- und Außenpolitik Algeriens?
Frankreich nimmt im politischen Imaginären Algeriens eine besondere Stellung ein: Es ist ein leichtes Ziel. Im algerischen Kontext bleibt die Attacke auf Frankreich eine Strategie mit geringem Risiko und oft hohem Ertrag. Selbst Oppositionspolitiker, die die Machthaber kritisieren, verteidigen Frankreich in der Regel nicht gegen seine Kritiker. Im Falle von Spannungen finden sie sich oft sogar in einer Art nationaler Einigkeit gegen Frankreich wieder. Das liegt vor allem an der symbolischen Last, die das koloniale Erbe weiterhin trägt, sowie an der Tatsache, dass Frankreich die Verbrechen der Kolonialzeit offiziell nie vollständig anerkannt hat. In Zeiten innenpolitischer Krisen bleibt die Anklage gegen Frankreich eine bequeme und oftmals nützliche Strategie, um von internen Problemen abzulenken oder eine gemeinsame Erzählung zu schaffen.
Institutionell beruhte die algerische Macht traditionell auf drei Säulen: der Präsidentschaft, der Armee und den Geheimdiensten. Die Präsidentschaft verfügt theoretisch über weitreichende Befugnisse, darunter das Recht, jeden Amtsträger zu entlassen. Die Armee verkörpert die Macht der physischen Gewalt und hat letztlich die Fähigkeit, einen Präsidenten ins Amt zu bringen oder zu stürzen. Die Geheimdienste wiederum waren lange Zeit das strategische Hirn des Regimes: Sie kontrollierten Wahlen, Parteien und auch die Opposition mit einer selten erreichten Einflusskraft.
Dieses Gleichgewicht wurde durch die Krankheit und den anschließenden Sturz von Abdelaziz Bouteflika tiefgreifend erschüttert. Einerseits verringerte sich das Gewicht der Präsidentschaft durch die Schwächung des Präsidenten. Andererseits wurden die Geheimdienste teilweise in die Präsidialstruktur integriert und verloren damit ihre Autonomie und ihre Rolle als Schiedsinstanz. Dieses Vakuum wurde von der Armee gefüllt, die heute die dominante Kraft im System ist.
Seit der Präsidentschaftswahl am 12. Dezember 2019 hat sich ein neues Gleichgewicht etabliert: eine Präsidentschaft mit weitreichenden Vollmachten und eine mächtige Armee, die sich nun weitgehend aus der Tagespolitik heraushält. Der Generalstabschef hat erreicht, was er wollte – eine erhebliche Erhöhung des Militärbudgets sowie die Übernahme des Verteidigungsministeriums, was ihm eine umfassende Kontrolle über Personalentscheidungen innerhalb der Armee verleiht. Der Präsident wiederum regiert ohne direkten militärischen Druck nach eigenem Ermessen.
Dieses Tandem aus Armee und Präsidentschaft funktioniert nach dem Prinzip gegenseitiger Nichteinmischung. Dadurch werden jedoch die institutionellen Kontrollmechanismen geschwächt, und die Möglichkeiten für eine strukturierte demokratische Debatte schrumpfen. Das Fehlen einer starken dritten Säule – wie sie die Geheimdienste einst darstellten – beraubt das System eines Schiedsrichters und macht es insgesamt starrer und weniger fähig, Spannungen aufzufangen oder Raum für echte Reformen zu öffnen.
Also taucht das Thema Frankreich in der politischen Debatte Algeriens recht häufig auf. Glauben Sie nicht, dass Frankreich dabei gewissermaßen die Rolle eines „Sündenbocks“ übernimmt?
Das ist kein außergewöhnliches Phänomen, gerade weil Frankreich ein so einfaches Thema ist. Aber diese Einfachheit findet sich auch in Frankreich selbst: Die Frage der Migration, insbesondere aus Algerien, wird dort regelmäßig im politischen Diskurs instrumentalisiert.
Dass Frankreich häufig in der algerischen Politik erwähnt wird, bedeutet also nicht zwangsläufig, dass es eine ernste oder strukturierende Priorität darstellt. In Wirklichkeit spielt Frankreich weder für die Bevölkerung noch für die politischen Eliten oder die Armee eine zentrale Rolle. Es handelt sich vielmehr um eine symbolische Reflexreaktion in bestimmten politischen Momenten.
In der Realität würde ein Franzose, der nach Algerien reist, sowohl von Bürgern als auch von Behörden herzlich empfangen werden. Und umgekehrt genießt ein algerischer Migrant in Frankreich Rechte und einen sozialen Schutz, die im Vergleich zu vielen anderen afrikanischen Staaten erheblich besser sind. Das zeigt, dass das tatsächliche Verhältnis vor Ort oft viel friedlicher ist, als es die politische Rhetorik vermuten lässt.
Die Lage im Norden Malis, an der algerischen Grenze, bleibt angespannt. Am 1. April drang eine malische Akinci-Drohne zwei Kilometer in den algerischen Luftraum in der Nähe von Tinzaouatine ein und wurde von der algerischen Armee abgeschossen. Können Sie uns die Dynamik dieses Konflikts erläutern?
Man muss die Dinge in den richtigen Kontext setzen, der mittlerweile über dreizehn Jahre zurückreicht. Mali war in einen komplexen politischen Prozess verwickelt, in dem eine separatistische oder autonomistische Rebellion im Norden des Landes stattfand, zusätzlich zu der Präsenz jihadistischer Gruppen, die al-Qaida oder dem sogenannten Islamischen Staat nahestehen.
Algerien spielte damals die Rolle des Vermittlers und leitete einen Friedensprozess ein, der 2015 in der Unterzeichnung der Algier-Abkommen zwischen den zentralen malischen Behörden und bewaffneten Gruppen im Norden mündete. Diese Abkommen sahen vor, dass die unterzeichnenden Gruppen ihre Unabhängigkeitsbestrebungen aufgeben, sich in einen politischen Prozess einfügen und in staatliche Institutionen – insbesondere Armee und Polizei – integriert werden sollten, von denen sie historisch ausgeschlossen waren. Es ist wichtig zu betonen, dass die Rekrutierungspraktiken in Mali lange Zeit bestimmte Gemeinschaften, insbesondere Tuareg und Araber, diskriminiert haben.
Algerien unterschied zwischen zwei Kategorien von Akteuren: den bewaffneten politischen Gruppen, die die Abkommen unterzeichnet hatten und mit denen ein Dialog geführt werden sollte, und den Terrorgruppen, gegen die ein kompromissloser Kampf zu führen war.
Dieses fragile Gleichgewicht wurde jedoch durch die aufeinanderfolgenden Staatsstreiche in Mali und das Auftreten einer von Russland und der privaten Militärfirma Wagner militärisch unterstützten Junta zerstört. Die neue malische Regierung erklärte die Algier-Abkommen einseitig für null und nichtig und kriminalisierte alle bewaffneten Gruppen, einschließlich jener, die in einen politischen Prozess eingebunden waren. Jede Form von Opposition wurde mit Terrorismus gleichgesetzt, womit die Unterscheidung zwischen politischen Akteuren und jihadistischen Gruppen aufgehoben wurde.
Algerien hält weiterhin an der Gültigkeit der Algier-Abkommen fest und betrachtet die politischen Gruppen im Norden im Gegensatz zur Position der malischen Junta nicht als Terroristen. Algerien gewährt malischen politischen Führern Zuflucht und nimmt Zivilisten auf, die vor der Gewalt fliehen. Außerdem hat es die Präsenz von Wagner in Mali stets scharf verurteilt, was sich insbesondere bei der Konfrontation von Tinzaouatine im Juli 2024 zeigte, als Wagner-Einheiten schwere Verluste erlitten.
Diese Spannungen führten zu einer Abkühlung der Beziehungen zwischen Algerien und Russland, da Algier der Ansicht ist, dass Moskau inzwischen eine unverhältnismäßig große Rolle in der Region spielt und damit die traditionellen diplomatischen Gleichgewichte infrage stellt.
Welche Auswirkungen hatte diese Entwicklung auf die Beziehungen Algeriens zu Russland, angesichts der traditionell engen Verbindungen zwischen beiden Ländern?
Die Beziehungen zwischen Algerien und Russland sind komplexer, als sie erscheinen. Zwar gehört Algerien zu den wichtigsten Abnehmern russischer Waffen, und die Beziehungen zwischen den beiden Armeen sind historisch eng, doch besteht keine echte politische Nähe zwischen Algier und Moskau. Im Gegenteil: Auf strategischer Ebene, etwa beim Thema Gas, sind die beiden Länder sogar Konkurrenten.
Als Russland in die Ukraine einmarschierte, weigerte sich Algerien, sich auf die Seite Russlands zu stellen. Entgegen mancher Erwartungen reduzierte Algier seine Gaslieferungen nach Europa nicht – eine Maßnahme, die russischen Interessen durch eine Verschärfung der Energiekrise gedient hätte. Im Gegenteil: Algerien steigerte seine Gasexporte nach Europa und trug damit zur Stabilisierung der Preise und zur Sicherung der europäischen Energieversorgung bei. Diese Entscheidung wurde in Moskau mit Missfallen aufgenommen.
Auch diplomatisch verfolgt Algerien eine aktive Neutralitätspolitik. Es hat seine Botschaft in Kiew nie geschlossen, und die ukrainische Botschaft in Algier arbeitete weiterhin normal, wobei die Beziehungen zwischen ukrainischen Diplomaten und algerischen Behörden stets korrekt blieben. Ukrainische Vertreter wurden sogar regelmäßig zu offiziellen Empfängen eingeladen – ebenso wie ihre russischen Kollegen. Obwohl Algerien die russische Aggression nicht explizit verurteilt hat, unterstützt es sie auch nicht: Es erkennt weder die Annexion der Krim noch anderer ukrainischer Gebiete an. Algerien leistet weder militärische Hilfe für Russland noch konkrete Unterstützung für die Ukraine.
Diese Haltung spiegelt eine diplomatische Linie pragmatischer Neutralität wider – ohne Feindseligkeit, aber auch ohne klare Parteinahme. Eine Position, die Moskau mit gewisser Enttäuschung wahrnimmt: Aus russischer Sicht hätte Algier angesichts der wenigen verbliebenen Verbündeten Russlands mehr Solidarität zeigen können. Algerien seinerseits ruft weiterhin zu einem Ende der Kampfhandlungen und zu einer politischen Lösung auf.
Und welche Rolle spielt Algerien in den malischen Angelegenheiten?
Entgegen verbreiteter Annahmen hat Algerien niemals logistische, materielle oder politische Unterstützung für die Präsenz von Wagner in Mali geleistet. Es gibt in dieser Hinsicht keine „Schuld“ Algeriens gegenüber Russland. Lediglich ein Vorfall im Jahr 2020 könnte zu Missverständnissen geführt haben: Ein russisches Flugzeug überflog damals algerisches Territorium auf dem Weg nach Mali. Die genaue Identität der Passagiere war zu diesem Zeitpunkt unklar, auch wenn Hinweise auf Mitglieder der Wagner-Gruppe hindeuteten. Es handelte sich jedoch um einen Einzelfall.
Ab 2021 nahm Algerien eine klare und kritische Haltung gegenüber der Präsenz Wagners in der Region ein. Diese Kritik wurde mit der Zeit immer deutlicher, insbesondere seit 2024 nach den Ereignissen von Tinzaouatine an der algerisch-malischen Grenze. Algerien äußerte damals seine Ablehnung gegenüber Wagners Vormarsch in der Region auf diplomatischem und sicherheitspolitischem Wege, ohne sich jedoch offen auf eine direkte Konfrontation einzulassen.
Im September 2024 konnte ein zweiter Versuch Wagners, seine Präsenz in der Region auszubauen, offenbar weitgehend dank der Entschlossenheit Algeriens abgewehrt werden. Es ist wahrscheinlich, dass die russischen Behörden angesichts dieses Widerstands Druck auf die Söldnergruppe ausübten, um ihren Vormarsch zu stoppen. Algerien könnte somit – ohne direkt in den Konflikt verwickelt zu sein – eine entscheidende Rolle gespielt haben, indem es indirekt die gegen Wagner kämpfenden Tuareg-Gruppen unterstützte und so zu der schweren Niederlage beitrug, bei der in Tinzaouatine mehrere Hundert russische Kämpfer ums Leben kamen.
Abschließend möchte ich Sie bitten, Algeriens Außenpolitik, seine Beziehungen zu den Weltmächten und seine Interessen darzulegen. Welche aktuellen Dynamiken beobachten Sie?
Ich möchte hinzufügen, dass Algeriens Haltung gegenüber Russland zwar insgesamt neutral ist, jedoch von einer gewissen historischen Freundschaft geprägt bleibt. Die militärischen Verbindungen sind nach wie vor stark, insbesondere durch den Kauf russischer Waffen durch die algerische Armee. Diese Nähe bedeutet jedoch nicht zwangsläufig eine politische Ausrichtung auf Russland. Algerien ist entschlossen, eine unabhängige, ausgewogene und blockfreie Position zu bewahren.
Die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten sind besonders gut. Algier und Washington verbindet ein gegenseitiger Respekt sowie gemeinsame strategische Interessen, insbesondere im Bereich alternativer Energien. Algier betrachtet Washington als verlässlichen Partner und langjährigen Freund.
Im Verhältnis zur Europäischen Union befindet sich Algerien derzeit in einer Phase der Neubewertung. Algier hat kürzlich sein Assoziierungsabkommen mit der EU infrage gestellt, da es seiner Auffassung nach nicht mehr seinen Interessen entspricht. Eine Neuverhandlung wird angestrebt, um eine ausgewogenere Partnerschaft zu erreichen. In diesem Kontext ist Italien Algeriens wichtigster europäischer Partner. Zwischen den beiden Ländern haben sich starke strategische und wirtschaftliche Kooperationen entwickelt, die zuletzt unter der Regierung von Giorgia Meloni weiter gefestigt wurden. Die Freundschaft zwischen Rom und Algier reicht bis in die Zeit vor der algerischen Unabhängigkeit zurück und hat sich seither kontinuierlich vertieft.
Die Türkei entwickelt sich zunehmend zu einem bedeutenden wirtschaftlichen Partner Algeriens. Sie ist der führende ausländische Investor außerhalb des Energiesektors im Land. Diese Annäherung ist Teil einer umfassenderen Strategie Algeriens zur Diversifizierung seiner internationalen Partnerschaften.
Auf regionaler Ebene basiert Algeriens Außenpolitik auf den Prinzipien von Stabilität und Kooperation. Das Land pflegt gute Beziehungen zu den arabischen Gemeinschaften in der Sahelzone sowie zu seinen Maghreb-Nachbarn. Kürzlich wurde ein trilaterales Bündnis mit Tunesien und Libyen ins Leben gerufen, das eine bessere Koordination bei der Bewältigung regionaler Herausforderungen anstrebt. Bedeutende Fortschritte wurden insbesondere bei Verkehrsfragen erzielt — so etwa durch die Eröffnung von Eisenbahnverbindungen zwischen Algerien und Tunesien — sowie bei der gemeinsamen Nutzung von Wasserressourcen. Letzteres ist in einer von Trockenheit geprägten Region von entscheidender Bedeutung, und das erzielte Abkommen stellt einen wichtigen Stabilitätsfaktor für die Zukunft dar.