Von Noura Natour
Zusammenfassung
Die prophetische Aussage „Der Islam löscht aus, was zuvor war“ ist weit mehr als eine beiläufige Bemerkung. Sie wurde über Generationen hinweg überliefert, übernommen – und immer wieder instrumentalisiert, um Blutvergießen und politische Gewalt zu rechtfertigen. Historische Persönlichkeiten, darunter hochverehrte Gefährten wie Khalid ibn al-Walid, wurden trotz schwerster Gewalttaten unter dem Deckmantel religiöser Rechtschaffenheit nicht nur begnadigt, sondern auch verherrlicht. Dieser Artikel untersucht, wie bestimmte religiöse und historische Texte umgedeutet wurden, um modernen politischen Terror zu legitimieren, Gewalt reinzuwaschen und sowohl in der Vergangenheit als auch heute moralische Schlupflöcher für Brutalität zu schaffen.
Einleitung
Beginnen wir mit der prophetischen Aussage: „Der Islam löscht aus, was zuvor war.“ Eine kraftvolle Aussage – und doch wirft sie schwierige Fragen auf:
- Welche Verbrechen sind wirklich durch Reue verzeihlich?
- Hebt Reue auch die Verantwortung gegenüber den Opfern auf?
- Reicht ein Lippenbekenntnis zur Reue, um wieder Teil der Gesellschaft zu werden – oder braucht es nicht auch eine seelische, intellektuelle und praktische Aufarbeitung?
- Kann Reue das Gewissen beruhigen – vorausgesetzt, es existiert überhaupt?
Ich bin keine Historikerin, doch ich bin mit diesem Hadith aufgewachsen – ich habe ihn häufiger gehört als jeden anderen. Seit über 1400 Jahren wird er zitiert, als wäre er göttliche Offenbarung.
Von den sogenannten islamischen Eroberungen bis in unsere Zeit haben weite Teile der arabischen und muslimischen Welt unter innerer wie äußerer Gewalt gelitten, die im Namen des Islam gerechtfertigt wurde. Schwerter wurden erhoben, Städte erobert, Blut vergossen – und anschließend wurden Denkmäler errichtet, um die Werkzeuge der Eroberung zu verherrlichen. Das alles wurde als Preis für die Ausbreitung des Glaubens dargestellt.
Mir geht es nicht darum, einzelne Personen zu verurteilen oder zu rehabilitieren. Vielmehr will ich den ideologischen Unterbau kritisch beleuchten, der es ermöglicht hat, im Namen von Religion und Macht Gräueltaten zu begehen.
Historisches Vergeben – selektives Erinnern
Der Hadith „Der Islam löscht aus, was zuvor war“ diente historisch oft als moralischer Neustart – selektiv eingesetzt, um selbst schwerste Verbrechen zu vergeben. So etwa im Fall von Khalid ibn al-Walid, dem „edlen Gefährten“, der Mitglieder des Stammes Banu Jadhima massakrierte. Der Prophet soll über den Vorfall erzürnt gewesen sein und sandte Ali ibn Abi Talib, um Entschädigung zu leisten – sogar für den Schrecken, den die Überlebenden empfunden hatten. Ali sagte: „Ich habe gezahlt für die Furcht in ihren Herzen.“
Später führte Khalid während der Ridda-Kriege unter Kalif Abu Bakr brutale Feldzüge – darunter die angebliche Ermordung von Malik ibn Nuwayrah, dessen Kopf er im Kochtopf gegart haben soll. Alles im Namen der Stabilisierung des islamischen Staates. Ähnlich umstritten sind die Erzählungen über Muawiya ibn Abi Sufyan, dessen Aufstieg von politischem Kalkül, militärischen Siegen – und viel Blut – geprägt war.
Diese Beispiele sollen keine Dämonisierung sein, sondern zeigen, wie komplexe historische Figuren im Nachhinein zu Vorbildern religiös legitimierter Gewalt stilisiert wurden.
Wenn Geschichte zur Waffe wird
Ein besonders beunruhigendes Beispiel ist die Geschichte zweier Gefährten, die mit dem Auftrag ausgesandt wurden, den Dichter Kaab ibn al-Ashraf zu töten – weil er kritische Verse über den Propheten verfasst hatte. Sie nahmen seine Gastfreundschaft an, speisten mit ihm – und ermordeten ihn in seinem Haus. Die Erzählung stammt von Ibn Ishaq und gilt als historisch umstritten, doch sie wird bis heute gelehrt und zitiert.
Ihre implizite Botschaft: Wer religiöse Autoritäten kritisiert, darf getötet werden – mit göttlicher Legitimation. Die Abbasiden nutzten solche Erzählungen, um oppositionelle Stimmen zum Schweigen zu bringen. Und sie wurden von späteren Regimen aufgegriffen. Was einst Einzelfälle waren, wurde zu ideologischen Präzedenzfällen für Terror im Gewand göttlicher Gerechtigkeit.
Terror legitimieren durch selektive Erzählungen
Besonders gefährlich ist die Umdeutung solcher Geschichten zu moralischen Vorbildern. Ob staatliche oder nichtstaatliche Akteure – heutige Terroristen rechtfertigen ihre Taten mit selektiv ausgelegten Texten. Auch weltliche Machthaber bedienen sich ähnlicher Strategien: von George W. Bushs Irakkrieg bis zu Assad, Putin, Erdoğan und dem iranischen Regime – alle beanspruchen, den Terror zu bekämpfen, und begehen ihn zugleich.
In dieser Logik wird ein Krimineller in dem Moment zum Helden, in dem er gewinnt. Kriegsverbrecher werden durch ihren Sieg reingewaschen, Massenmord verwandelt sich in religiösen oder nationalen Ruhm. Es genügt, beim Töten „Allahu Akbar“ zu rufen – und die Tat gilt als heilig. Gefangene Frauen werden zur Kriegsbeute erklärt. Häuser und Leben werden „halal“ – nur weil die Menschen einen anderen Glauben oder eine andere Konfession haben.
Diese perverse Verkehrung ist kein bloßes Gedankenspiel. Auch ich las einst über die Praxis der Versklavung weiblicher Gefangener in der Frühzeit des Islam – ohne das volle Ausmaß zu begreifen. Erst als ich während des syrischen Krieges dieselben Verbrechen erlebte – in Gefängnissen des Regimes wie in Gebieten der Opposition – erkannte ich das Ausmaß. Vergewaltigung, Missbrauch und Gefangenschaft wurden erneut zu Kriegswaffen – diesmal religiös begründet durch Extremisten mit Gottesbezug.
Die eigentliche Tragödie liegt nicht nur in der Tat – sondern in dem Glauben, dass sie heilig ist.
Ideologische Landminen in heiligen Texten
Die gefährlichsten Waffen sind keine Atombomben – sondern unkontrollierte Auslegungen heiliger Schriften. Wenn ein Mensch glaubt, er dürfe seinen Vater töten, weil dieser vom Glauben abgefallen ist, oder seine Mutter verstoßen, weil sie Christin ist, dann befinden wir uns im moralischen Kollaps. Und wenn er sie verschont, könnte er glauben, Gott widersprochen zu haben.
Die Gefahr liegt nicht im Tod an sich – sondern im Nebeneinanderleben mit jemandem, der sich moralisch legitimiert fühlt zu töten, sobald die Gelegenheit günstig ist.
Schluss
Ich trauere um die täglichen Toten in Gaza. Doch was mich noch tiefer trifft, sind die Toten in meinem eigenen Land – Freunde und Nachbarn, die sich gegenseitig nicht als Feinde, sondern als Verräter, Abtrünnige oder Kollaborateure getötet haben. Je nachdem, wer gerade die Deutungshoheit hatte.
Gestern diente der Kampf gegen Terror als Rechtfertigung. Heute ist es der „Kampf gegen Überreste des Regimes“. Morgen wird es ein neuer Vorwand sein. Das Ergebnis bleibt dasselbe: Zivilist\:innen zahlen mit ihrem Leben.
Lassen Sie mich klarstellen: Ich klage die Gefährten nicht an. Sie lebten in einer anderen Zeit, unter völlig anderen Bedingungen. Aber ich fordere jeden heraus, zu erklären, warum heutige Extremisten ihre Ideologie genau auf diese frühen Ereignisse stützen. Wer diesen Zusammenhang leugnet, soll erklären, wie sie ihre Gewalt rechtfertigen. Doch bitte keine beschönigenden Antworten: Mord bleibt Mord – selbst wenn das Opfer der Teufel persönlich wäre.