Ein kraftvolles Zeichen ging kürzlich von den Straßen Brüssels aus: Mehr als 20.000 Menschen versammelten sich an einem Wochenende im Zentrum der belgischen Hauptstadt, um gegen die anhaltende Gewalt im Gazastreifen und die israelische Militäroffensive zu protestieren. Ihre Forderungen waren klar: Die Europäische Union solle ihre diplomischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel überdenken, keine Waffen mehr an das Land liefern, auf einen sofortigen Waffenstillstand drängen und Palästina endlich als Staat anerkennen.
Kurz darauf verlieh ein offener Brief zusätzlichem Nachdruck: Rund zwei Dutzend jüdische Intellektuelle aus Belgien wandten sich mit einer Stellungnahme unter dem Titel „Nicht in unserem Namen“ an die Öffentlichkeit. Sie kritisierten die verbreitete Praxis, jegliche Kritik an der israelischen Regierungspolitik pauschal als antisemitisch zu diffamieren, und schlossen sich inhaltlich den zentralen Forderungen der Demonstrierenden an. „Unsere Stimme“, so der Tenor, „soll nicht für eine Politik vereinnahmt werden, die grundlegende Menschenrechte verletzt.“
Die wachsende gesellschaftliche Unruhe blieb nicht ohne Einfluss auf die politische Agenda. Als sich die Außenministerinnen und Außenminister der EU in Brüssel trafen, rückte die dramatische Lage in Gaza in den Mittelpunkt der Beratungen. Doch trotz der massiven zivilgesellschaftlichen Proteste und der breiten öffentlichen Anteilnahme deutet wenig darauf hin, dass die EU ihren Kurs gegenüber Israel grundlegend ändern wird.
Zwar herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass das Leid der Zivilbevölkerung im Gazastreifen unerträglich ist. Auch Appelle an Israel und die Hamas, endlich eine Waffenruhe zu ermöglichen und humanitäre Hilfe zuzulassen, wurden erneut formuliert. Doch darüber hinaus bleiben die 27 Mitgliedstaaten tief gespalten – insbesondere bei der Frage, wie weitreichend politische Konsequenzen gegenüber Israel ausfallen sollen.
Ein möglicher Hebel wäre das Assoziierungsabkommen, das die EU und Israel seit dem Jahr 2000 verbindet. Es regelt die enge wirtschaftliche, politische und wissenschaftliche Zusammenarbeit – und ist mehr als ein bloßes Handelsabkommen. In Artikel 2 des Vertragswerks heißt es ausdrücklich, dass die Beziehungen auf der „Achtung der Menschenrechte und der demokratischen Prinzipien“ beruhen müssen.
EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas hatte angeregt, die Ministerrunde solle sich grundlegend mit der Zukunft dieses Abkommens befassen. Ihre Frage: Ist es angesichts der hohen zivilen Opferzahlen, der Zerstörung von Krankenhäusern und Schulen sowie der weitreichenden humanitären Not in Gaza noch vertretbar, an einer privilegierten Partnerschaft mit Israel festzuhalten? Oder verletzt Israel durch sein militärisches Vorgehen inzwischen jene Prinzipien, auf denen die Kooperation basiert?
Doch auch hier zeichnet sich keine Einigkeit ab. Während Staaten wie Irland oder Spanien eine härtere Gangart gegenüber Israel fordern, pochen andere – darunter Deutschland, Tschechien oder Österreich – weiterhin auf uneingeschränkte Solidarität mit der israelischen Regierung. Die politische Realität: Die Hürden für ein Aussetzen des Assoziierungsabkommens sind hoch – nicht nur wegen der nötigen Einstimmigkeit, sondern auch wegen strategischer und wirtschaftlicher Interessen.
So bleibt es vorerst bei Appellen. Die EU verurteilt das Leid der palästinensischen Bevölkerung, ruft zur Einhaltung des Völkerrechts auf und fordert mehr humanitären Zugang. Doch von einem klaren politischen Kurswechsel ist die Union weit entfernt. Die Demonstrierenden in Brüssel – ebenso wie die unterzeichnenden jüdischen Intellektuellen – dürften ihre Forderungen daher noch länger wiederholen müssen.
Der niederländische Außenminister Caspar Veldkamp hatte die Debatte mit einem Brief an Kaja Kallas angestoßen. Sein Urteil ist klar: Weil Israel Hilfslieferungen blockiere und den Krieg in Gaza wieder verschärfe, sei das Abkommen mit Israel null und nichtig. Der Rechtspopulist Geert Wilders, heimlicher Chef der niederländischen Regierung, zeigte sich empört über den Vorstoß des Ministers, doch den christdemokratisch geprägten Veldkamp, vor einigen Jahren noch niederländischer Botschafter in Israel, ficht das nicht an: Es sei wichtig, dass Israel von Ländern kritisiert werde, die dem Land traditionell in Freundschaft verbunden sind, sagt er.
Der französische Außenminister Jean-Noël Barrot unterstützt die Initiative seines niederländischen Kollegen. Er forderte die EU-Kommission auf, sie solle eine Einschätzung vorlegen, ob das Assoziierungsabkommen noch tragfähig ist. Doch wie auch immer das Urteil ausfällt: Wegweisende Entscheidungen waren von der Außenministerrunde nicht zu erwarten, denn diese erfordern Einstimmigkeit – und dagegen stehen die Regierungen von Ungarn, Tschechien, Österreich und nicht zuletzt Deutschland.
Lange galt Deutschland innerhalb der EU als verlässlicher Verbündeter Israels – ein Partner, der ohne Zögern an der Seite des jüdischen Staates stand. Doch in den letzten Monaten ihrer Amtszeit veränderte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) dieses Bild. Ihre Kritik an der israelischen Kriegsführung im Gazastreifen wurde deutlicher, die Distanz zur Regierung in Jerusalem wuchs – und mit ihr auch die Wahrnehmung Deutschlands innerhalb der EU: Nicht länger als bedingungsloser Rückhalt, sondern als Akteur mit nuancierter Position.
Doch auch Baerbock zog Grenzen. Beim umstrittenen Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Israel, das auf gemeinsamen Werten wie Menschenrechten und demokratischen Prinzipien beruht, hielt sie an der Linie fest, die auch viele ihrer europäischen Amtskolleginnen und -kollegen vertreten: Gesprächskanäle offenhalten sei wichtiger, als den diplomatischen Bruch zu riskieren.
Mit dem Amtsantritt von Johann Wadephul (CDU) dürfte sich an dieser Haltung wenig ändern – eher im Gegenteil. Zwar mahnte der neue Außenminister bei einem Besuch in Israel, militärische Mittel allein könnten keinen Frieden schaffen. Zugleich bekräftigte er aber unmissverständlich Deutschlands „besondere Verantwortung“ gegenüber Israel – eine Konstante, an der auch künftig nicht gerüttelt wird.
Diese Grundhaltung prägt auch den Umgang mit einer anderen Frage, die Europas Außenpolitik derzeit spaltet: der möglichen Anerkennung Palästinas als Staat. Während Irland und Spanien diesen Schritt bereits vollzogen haben, lehnt die Bundesregierung symbolische Akte dieser Art ab. Eine EU-weite Einigung ist nicht in Sicht.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron versucht daher, auf eigene Faust Bewegung in die festgefahrene Lage zu bringen. Auf einer internationalen Nahost-Konferenz, die im Juni in New York unter französisch-saudischer Leitung stattfindet, will er eine neue Dynamik für die Zwei-Staaten-Lösung schaffen. Der Plan: Arabische Staaten sollen das Existenzrecht Israels anerkennen – im Gegenzug würden europäische Länder wie Frankreich Palästina offiziell anerkennen. Doch in Brüssel stößt Macrons Vorstoß bislang auf wenig Begeisterung. Hinter vorgehaltener Hand ist von einer „Solonummer“ die Rede.
Ein wenig Unterstützung kommt aus Belgien – allerdings vor allem aus innenpolitischem Kalkül. Dort hatte sich die Regierungskoalition heftig über den Gaza-Krieg zerstritten. Sozialdemokraten und Christdemokraten warfen Israel gar „Genozid“ vor und forderten eine sofortige Anerkennung Palästinas. Die liberal-konservative Fraktion um Premierminister Bart De Wever widersetzte sich vehement. Der nun mühsam gefundene Kompromiss: eine Resolution, die einen Waffenstillstand, humanitäre Hilfe und eine Zwei-Staaten-Lösung fordert – letztere jedoch bleibt angesichts der Lage im Nahen Osten reine Zukunftsmusik. Belgien, so scheint es, ist derzeit ein Spiegelbild der gespaltenen EU.
Auch EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas zeigte sich zuletzt sichtlich ernüchtert. Beim Treffen der Außenminister in Warschau sprach sie offen von der „enormen Frustration“, die sich unter den Mitgliedstaaten breitgemacht habe – darüber, dass Europa der Gewalt in Gaza machtlos gegenübersteht, aber auch über die tiefe Uneinigkeit im eigenen Lager.
Ihr Vorgänger Josep Borrell hatte diese Hilflosigkeit bereits in seiner Amtszeit offen kritisiert – und tut es nun mit noch größerer Schärfe. In einem Interview warf der Spanier Israel erneut „Genozid“ vor und übte schonungslose Selbstkritik an der europäischen Außenpolitik. Europas Ansehen in der Welt, so Borrell, sei schwer beschädigt: „Wir haben gezeigt, dass uns das Leben der Palästinenser egal ist.“