Von Yasser Hassoun
Zusammenfassung
Wenn man die Dynamik öffentlicher Diskurse beobachtet – sei es im privaten Umfeld oder in Fernsehgesprächen prominenter Persönlichkeiten – fällt auf, dass Meinung und persönliche Identität häufig miteinander verwechselt werden. Diese Vermischung führt zu einem grundlegenden Problem: der Unfähigkeit, das Gesagte von der Person zu trennen, die es sagt. Diese Trennung aber kann die Aufnahme gegensätzlicher Sichtweisen erheblich erleichtern und das psychologische Unbehagen verringern, das Kritik oft auslöst. So wird der Diskurs von persönlicher Kränkung befreit und auf konstruktives Miteinander gelenkt. Doch wie können wir lernen, Kritik oder abweichende Meinungen zu akzeptieren? Dieser Beitrag nähert sich der Frage anhand folgender Schwerpunkte:
- Einleitung
- Was unterscheidet eine Auseinandersetzung von einem Dialog? Sind Gespräche in unseren Gesellschaften eher Dialoge oder Dispute?
- Ist kritischer Diskurs überhaupt möglich – selbst unter selbsternannten Intellektuellen?
- Warum empfinden Menschen Scham oder Unbehagen, wenn sie in der Öffentlichkeit Kritik äußern?
- Können sprachliche Muster Aufschluss über diese Dynamik geben?
- Was verraten die arabischen Begriffe faḥm (Holzkohle) und sakhm (Ruß) über die Psychologie des Widerspruchs?
- Inwiefern spiegeln diese Begriffe den emotionalen Zustand der Streitenden wider?
Einleitung
Warum geraten Menschen in unserer Gesellschaft so leicht in Rage, wenn man ihnen widerspricht? Mich fasziniert seit Langem die Spannung, die selbst bei belanglosen Diskussionen aufflammt. Gerötete Wangen und geblähte Nasenflügel bei den Beteiligten deuten oft auf mehr als bloße Meinungsverschiedenheit hin. Erstaunlicherweise hinterlassen viele dieser Gespräche anhaltenden Groll – manchmal geht es nur um eine Lieblingsfußballmannschaft. Meiner Beobachtung nach ähneln die meisten „Debatten“ in unseren Gemeinschaften eher Streitgesprächen als echten Dialogen.
Dialog vs. Disput
Der Unterschied zwischen Dialog (taḥāwur) und Streit (jidāl) wird im Koran deutlich – insbesondere im ersten Vers der Sure Al-Muǧādila:
„Wahrlich, Allah hat das Wort jener gehört, die mit dir über ihren Ehemann stritt und sich an Allah wandte. Und Allah hörte euer Gespräch. Wahrlich, Allah ist Allhörend, Allsehend.“ (Koran 58:1)
Zunächst beschreibt der Vers das Gespräch zwischen dem Propheten Muhammad (Friede sei mit ihm) und Khawla bint Thaʿlaba als jidāl (Streit), da sie eine rechtliche Aufhebung der Scheidung durch ẓihār (eine vorislamische Scheidungsform) forderte, während der Prophet eine Antwort gab, die sie dauerhaft für ihren Mann verbot. Erst als sie sich an Gott wandte und ein neues Gesetz offenbart wurde, wechselte die Beschreibung zu taḥāwur (Dialog) – nun gab es eine gemeinsame Grundlage. Streit bedeutet also ein Aufeinandertreffen ohne geteilte Basis, während Dialog innerhalb eines gemeinsamen Rahmens oder Zieles stattfindet.
Intellektuelle und der Umgang mit Kritik
Ende der 1980er Jahre machte ich ein persönliches Experiment, um meine eigene Fähigkeit zu testen, gegensätzliche Meinungen auszuhalten. Ich lud eine Gruppe von Freunden und Kollegen zu mir ein und bat jeden Einzelnen, meine negativen Eigenschaften aufzuschreiben – direkt, ohne Rücksicht auf meine Gefühle. Ich versprach, alle Kritik anzunehmen, so hart oder beleidigend sie auch sein mochte.
Der Anstoß für dieses Experiment war mein wachsendes Bewusstsein dafür, wie schwer es uns fällt, mit Widerspruch umzugehen – trotz der Parolen, die wir so gern verbreiten. Viele in meinem Umfeld propagierten die Werte der Meinungsfreiheit und der geistigen Offenheit, zierten ihre Notizbücher mit entsprechenden Sprüchen. Doch in der Praxis fiel es ihnen wie mir schwer, diesen Idealen gerecht zu werden.
Kritik und das Unbehagen des Ausdrucks
Während dieser Sitzung fiel mir auf, dass jedes Mal, wenn jemand mit seiner Rückmeldung begann, das Gesicht errötete – Ausdruck von Scham und Unbehagen. Meine Zusicherungen und mein ständiges Lächeln linderten die Spannung kaum. Selbst als ich zum Weitermachen ermutigte, zitterten manche Stimmen spürbar – besonders wenn die Kritik ins Persönliche abglitt.
Ich nahm zwei Erkenntnisse aus diesem Abend mit. Erstens: Ich hatte praktische Übung darin gewonnen, Kritik anzunehmen – eine schmerzhafte, aber heilsame Erfahrung. Zweitens: Eine Frage ließ mich nicht mehr los – warum empfinden Menschen so viel Scham, wenn sie Kritik äußern sollen, selbst wenn sie dazu ausdrücklich aufgefordert werden?
Auf der Suche nach Antworten untersuchte ich die Sprache, die in solchen Momenten verwendet wird. Manche Wörter tragen ein psychologisches Gewicht, das beeinflusst, wie Kritik wahrgenommen wird – sie verbinden Widerspruch mit Schande oder sozialem Makel. Zwei Begriffe stachen besonders hervor: faḥm und sakhm.
Das psychologische Gewicht von „Faḥm“ und „Sakhm“
Das Wort faḥm (Holzkohle) wird oft verwendet, um einen „Sieg“ in einer Diskussion zu beschreiben. In vielen Debatten streben die Teilnehmer danach, als mufḥim zu gelten – also als jemand, der sein Gegenüber „zum Schweigen bringt“ und damit die Anerkennung der Umstehenden gewinnt.
Was bedeutet faḥm sprachlich? Klassische arabische Lexika wie Maqāyīs al-Luġa geben zwei Bedeutungen an: Dunkelheit und Verstummen. Es steht für Schwärze (wie bei Kohle oder Nacht) und auch für das Stillmachen des Anderen – ihn sprachlos machen. Ein šāʿir mufḥam (sprachloser Dichter) ist jemand, dem keine Verse mehr einfallen. Faḥm steht also sowohl für die symbolische Niederlage (das „geschwärzte Gesicht“) als auch für das buchstäbliche Verstummen des Gegenübers – eine doppelte Demütigung, die dem Redenden Triumph und dem Verstummten Schmach verleiht.
Das zweite Wort, sakhm (Ruß), hat eine noch stärker entwertende soziale Bedeutung. Neben seiner Assoziation mit Schwärze steht es für moralischen Verfall und Schande. In der Umgangssprache – besonders in patriarchal geprägten Kontexten – bedeutet es: „So-und-so wurde gesakhmt“, also auf entwürdigende Weise beschmutzt – oft mit sexueller oder symbolischer Konnotation, die auch auf die Familie des Betroffenen abfärbt.
Schwarze Farbe als Metapher für Niederlage und Entehrung
In beiden Begriffen – faḥm und sakhm – steht Schwarz für Verlust, Demütigung oder moralischen Makel. Das erklärt, warum es Menschen in unserer Gesellschaft so schwerfällt, in einer Debatte nachzugeben – es käme einer öffentlichen Beschämung gleich. Ein Eingeständnis, besonders bei Männern, die Männlichkeit mit Dominanz gleichsetzen, wird zur Entmannung. Nachzugeben bedeutet, zum mukhannath (Verweiblichten) zu werden – jemand, der metaphorisch „geschwärzt“ und entehrt wurde.
Da Ehrverlust in dieser kulturellen Lesart als ansteckend gilt – also sowohl den Unterlegenen als auch den „Sieger“ befleckt – wird verständlich, warum dem Kritiker bei jedem Satz das Gesicht errötet. Kritik ist in diesem Rahmen kein Akt des Wohlwollens oder intellektuellen Austauschs, sondern ein Angriff. Selbst wenn sie eingeladen wird, bleibt Kritik kulturell konnotiert als feindselig. Die Sprache wird zum Schlachtfeld, und Kritik zur Waffe, die das Gegenüber schwärzt.
Eine Szene aus dem Alltag
Mitte der 1990er Jahre erlebte ich eine aufschlussreiche Szene in einer internationalen Organisation in Syrien. Zwei Angestellte – ein Ire und ein Schwede – diskutierten über die Maastricht-Verträge. Der Ire äußerte seine Meinung, woraufhin der Schwede trocken entgegnete: „Du liegst völlig falsch.“ Ich war schockiert über diese Direktheit – in arabischen Kontexten wäre das eine grobe Unhöflichkeit. Ich rechnete mit einem Streit. Doch der Ire lächelte nur und sagte: „Wirklich? Was denkst du?“
Nachdem der Schwede seine Sicht erläutert hatte, antwortete der Ire: „Danke dir. Ich hatte falsche Informationen.“ Und das war’s – kein Geschrei, keine Schuldzuweisungen, keine verletzten Egos.
Ich fragte mich: Werden wir jemals an dem Punkt ankommen, wo man Widerspruch akzeptieren kann, ohne Groll zu hegen?
Abschließende Gedanken
Nach unzähligen Debatten – ob im Freundeskreis oder in Fernsehsendungen – komme ich zu dem Schluss: In unseren Gesellschaften werden Meinungen zu Identitäten gemacht. Das ist der Kern des Problems. Wenn Kritik an einer Meinung als persönlicher Angriff empfunden wird, ist die emotionale Abwehrreaktion unvermeidlich. Die Lösung liegt darin, unsere Ansichten von unserem Selbstwert zu entkoppeln. Nur so können gegensätzliche Meinungen aufgenommen werden, ohne seelische Verletzung. Kritik wird dann zu einem Werkzeug des Wachstums – nicht zur Waffe der Beschämung.