Von Yussuf Abdel Hadi
Tunesien ist nicht irgendein Drittstaat für die Europäische Union – es ist ein geopolitisch bedeutsamer Partner an der südlichen Mittelmeergrenze. Die Zusammenarbeit mit Präsident Kaïs Saïed, im Jahr 2023 mit bis zu 900 Millionen Euro beziffert, verfolgt gleich mehrere Ziele: Die Stabilisierung der maroden Staatsfinanzen, die Modernisierung der tunesischen Wirtschaft – und nicht zuletzt die Eindämmung irregulärer Migration über das Mittelmeer. Im Gegenzug erwartet Brüssel, dass Tunis seine Küsten effektiver kontrolliert und als vorgelagerter Grenzwächter der EU fungiert.
Nun schlägt die Europäische Kommission unter der Führung von Ursula von der Leyen vor, Tunesien im europäischen Asylrecht als sicheres Herkunftsland einzustufen. Dieser juristische Status hat weitreichende Konsequenzen: Er bedeutet, dass Personen, die aus Tunesien Asyl in Europa beantragen, in der Regel davon ausgehen müssen, dass ihre Anträge als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden – weil der Herkunftsstaat als frei von systematischer politischer Verfolgung gilt. Die Einstufung erleichtert beschleunigte Asylverfahren und Rückführungen, was insbesondere jenen EU-Staaten entgegenkommt, die eine restriktivere Migrationspolitik verfolgen.
Doch ob Tunesien unter Präsident Kaïs Saïed diesen Kriterien tatsächlich genügt, ist höchst umstritten. Seit der Machtübernahme durch Saïed im Jahr 2021, als er das Parlament auflöste und per Dekret regierte, mehren sich die Anzeichen einer autoritären Rückentwicklung. Kritische Stimmen aus Politik, Medien und Zivilgesellschaft werden zunehmend unterdrückt. Oppositionspolitiker sitzen in Untersuchungshaft, Journalisten sehen sich Repression und Anklagen wegen angeblicher Staatsfeindlichkeit ausgesetzt, unabhängige Gerichte wurden faktisch entmachtet. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International warnen regelmäßig vor dem Abbau rechtsstaatlicher Standards und einer schleichenden Aushöhlung demokratischer Grundrechte.
Vor diesem Hintergrund erscheint die geplante Einstufung Tunesiens als sicheres Herkunftsland nicht nur als juristisch fragwürdig, sondern auch als politisch brisant. Sie würde bedeuten, dass die EU ein Land mit zunehmender autoritärer Repression de facto als unproblematisch einstuft – trotz gegenteiliger Berichte von internationalen Beobachtern und trotz der offensichtlichen Risiken, denen Oppositionelle, Aktivistinnen und Medienschaffende in Tunesien heute ausgesetzt sind.
In Tunis fand zur gleichen Zeit ein politisch aufgeladener Massenprozess statt: Rund 40 Personen standen wegen angeblicher Verschwörung gegen die Staatssicherheit vor Gericht. Beobachterinnen und Beobachter sprachen von einem Schauprozess – angeleitet von einem Präsidenten, der Kritiker systematisch ausschaltet und seine Macht zunehmend autoritär ausweitet. Die Angeklagten repräsentierten ein breites gesellschaftliches Spektrum: darunter liberale und islamistische Oppositionspolitiker, Unternehmer, Journalistinnen und Aktivisten aus der Zivilgesellschaft. Auch bekannte Feministinnen zählten zu den Beschuldigten. Als angeblicher Drahtzieher galt ein Geschäftsmann mit früheren Verbindungen zum Regime des gestürzten Diktators Ben Ali – ein Symbol dafür, wie selektiv und willkürlich Saïeds Repression mittlerweile greift.
Auf der Liste der Angeklagten fand sich sogar der französische Intellektuelle Bernard-Henri Lévy. Medienberichten zufolge warf man ihm sowohl „Freimaurertum“ als auch Verbindungen zum israelischen Geheimdienst Mossad vor. Er habe den tunesischen Staat unterwandern wollen. Die Öffentlichkeit war weitgehend ausgeschlossen, laut Medienberichten wurde nicht einmal die Anklageschrift verlesen. Nach einem Schnellverfahren verkündete das Gericht seine Urteile: Haftstrafen zwischen 13 und 66 Jahren. Lévy wurde zu 33 Jahren Haft verurteilt, in Abwesenheit natürlich. Die Familien und Vertreter der Angeklagten sowie zivilgesellschaftliche Organisationen protestierten heftig. Von „Wahnsinn“, von einem „politischen Urteil“ und von „Justizmord“ war die Rede. „Dieser Prozess ist eine Beleidigung der Intelligenz, eine Ohrfeige für das Recht und Spucke ins Gesicht des Rechtsstaats“, schrieben Menschenrechtsaktivisten.
Einer der bekanntesten Anwälte des Landes sprach davon, es seien nicht die Angeklagten gewesen, die in diesem Prozess „das Messer an der Kehle“ gespürt hätten, sondern der Vorsitzende des Gerichts. Er machte dazu eine Geste des Halsabschneidens. Sogleich wurde er wegen „terroristischer Vergehen“ in Untersuchungshaft gesteckt. Anwaltskollegen beharren darauf, er habe keinesfalls den Richter bedrohen, sondern ausdrücken wollen: Präsident Kaïs Saïed habe die diffuse Anklageschrift in Auftrag gegeben und dem Gericht das Messer an die Kehle gesetzt, um harte Urteile zu erzwingen.
Der Prozess zeugt von einem Klima der zunehmenden Repression in Tunesien. Kaïs Saïed, 2019 erstmals zum Präsidenten gewählt, suspendierte am 25. Juli 2021 das Parlament, setzte den amtierenden Premierminister ab und berief eine neue Regierung. Auch die Justiz brachte er später unter seine Kontrolle. Im Juli 2022 ließ er sich einen weiteren Machtzuwachs in einem Referendum bestätigen. Oppositionelle klagen, in dem Land herrschten wieder dieselben Verhältnisse wie unter Diktator Ben Ali, der im Arabischen Frühling 2011 gestürzt wurde.
In der EU galt die Partnerschaft mit Tunesien als Blaupause für mittlerweile ebenfalls geschlossene Abkommen mit Mauretanien, Ägypten oder Libanon. Sie wurde eingefädelt von der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni in Abstimmung mit Ursula von der Leyen. Der Deal scheint sich für die EU ausgezahlt zu haben, denn die Zahl der von Tunesien übers Mittelmeer Richtung Italien geflüchteten Migranten ist stark gesunken. Das gilt sowohl für Menschen, die aus der Subsahara über Tunesien Richtung Europa flüchten, als auch für Bürgerinnen und Bürger Tunesiens.
Die EU-Mitgliedsländer und das Europaparlament müssen sich nun über den Vorschlag der Kommission verständigen, Tunesien auf die erste gesamteuropäische Liste von sicheren Herkunftsländern zu setzen. Das nordafrikanische Land erschiene damit in einer Reihe mit den offiziellen EU-Beitrittskandidaten (Ausnahme: Ukraine) sowie Kosovo, Bangladesch, Kolumbien, Ägypten, Indien und Marokko. Zehn EU-Staaten haben den Schritt bereits auf nationaler Ebene vollzogen. Das heißt, Asylanträge von tunesischen Bürgerinnen und Bürger werden grundsätzlich im Schnellverfahren behandelt. Die EU-weite Anerkennungsquote lag 2024 bei lediglich vier Prozent.
Die Kommission kommt zu dem Urteil, zwar gebe es in Tunesien Repressionen gegen Oppositionelle und sexuelle Minderheiten. Aber es handle sich nicht um systematische Verfolgung. Deshalb könne „der Schluss gezogen werden, dass die tunesische Bevölkerung im Allgemeinen nicht Verfolgung oder der Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgesetzt ist“. Und weiterhin werde jeder Antrag auf Asyl individuell geprüft.