Zusammenfassung
Der Beitrag beleuchtet die Gefahren ideologischer Verhärtung und die dringende Notwendigkeit, abweichende Meinungen zuzulassen. Anhand der historischen Figur Abu Lahab – dem Onkel des Propheten Muhammad – wird gezeigt, wie sich Menschen in einer Haltung der Feindseligkeit derart verrennen können, dass ein Umdenken psychologisch und politisch kaum mehr möglich ist. Der Text zieht Parallelen zu modernen Konflikten, etwa dem irakischen Einmarsch in Kuwait, der Rolle Syriens in der Golfkrise und der heutigen Eskalation zwischen Iran und Israel.
Zentrale These: Wenn Individuen oder Staaten zu weit auf dem Pfad der Konfrontation voranschreiten, überschreiten sie einen psychologischen Schwellenwert – den „Point of No Return“. Danach wird eine Umkehr faktisch unmöglich.
Einleitung
Ein Freund stellte einst die Frage: Was wäre geschehen, wenn Abu Lahab nach der Offenbarung der Sure al-Masad den Islam angenommen hätte? Hätte der Prophet Muhammad ﷺ die Sure widerrufen? Oder wäre eine neue Offenbarung erfolgt, die sie aufhob?
Sure al-Masad verflucht Abu Lahab und seine Frau, noch zu deren Lebzeiten: „Verderben sollen die Hände Abu Lahabs – und selbst soll er zugrunde gehen! Sein Reichtum und was er erworben hat, wird ihm nichts nützen. Bald wird er brennen in einer Flamme. Und seine Frau, die Trägerin des Brennholzes – um ihren Hals ein Strick aus Palmfasern.“ (Koran, 111:1–5)
Manche argumentieren, ein Übertritt Abu Lahabs hätte die Glaubwürdigkeit des Propheten erschüttert. Andere berufen sich auf eine fatalistische Lesart des göttlichen Willens: Abu Lahab sei zum Unglauben bestimmt gewesen. Doch diese Haltung hebt persönliche Verantwortung auf.
Wieder andere – vor allem Kritiker der göttlichen Urheberschaft des Koran – werten die Sure als bloßes Propagandainstrument gegen einen politischen Gegner. Doch beide Extreme greifen zu kurz. Dieser Artikel nähert sich dem Thema aus einer umfassenderen Perspektive.
Wer war Abu Lahab?
Abu Lahab, mit bürgerlichem Namen ʿAbd al-ʿUzzā ibn ʿAbd al-Muṭṭalib, war ein Onkel des Propheten Muhammad ﷺ. Seinen Beinamen „Vater der Flamme“ verdankte er seinem rötlich leuchtenden Teint. Er wurde zu einem der erbittertsten Gegner des Islam: Er verspottete den Propheten, warf Müll vor dessen Tür und diffamierte ihn öffentlich. Laut Ibn al-Athir starb Abu Lahab kurz nach der Niederlage der Quraisch bei der Schlacht von Badr (2 n.H.) in Mekka an der Seuche al-ʿAdasa.¹
Der Kontext der Sure al-Masad
Die Sure wurde laut frühislamischen Quellen im vierten Jahr der prophetischen Mission offenbart. Eine bekannte Überlieferung schildert, wie der Prophet den Berg Safa bestieg und die Quraisch vor dem göttlichen Gericht warnte. Als er seine Sendung erklärte, rief Abu Lahab verächtlich: „Dafür hast du uns versammelt? Mögest du zugrunde gehen!“²
Er verfolgte Muhammad ﷺ regelrecht – reiste ihm nach, um seine Predigten zu stören, und warb gegen ihn mit den Worten: „Er will, dass ihr eure Götter aufgebt – für eine gefährliche Neuerung. Hört nicht auf ihn.“
Die Feindseligkeit Abu Lahabs und seiner Frau
Abu Lahab bekämpfte den Propheten ﷺ mit allen Mitteln – auch wirtschaftlich: Er überredete Händler, ihre Preise für Muslime künstlich zu erhöhen, und versprach, mögliche Verluste zu decken.³
Seine Frau Umm Jamil (Arwā bint Harb) stand ihm in Hass und Spott nicht nach: Sie legte Dornen in den Weg des Propheten und dichtete Schmähverse: „Wir widersetzten uns dem Verfluchten, verwarfen seine Worte und verabscheuten seine Religion.“
Psychologische Perspektive: Der Point of No Return
Aus psychologischer Sicht hatten sich Abu Lahab und seine Frau in ihrer Feindschaft so weit verrannt, dass ein Umdenken nicht mehr möglich war. Der britische Psychologe Sir Frederic Bartlett beschrieb diesen Zustand 1958 als Point of No Return – jenen Moment, in dem ein Mensch sich so sehr auf einen Kurs festgelegt hat, dass eine Umkehr keine Option mehr ist.⁴
Hafiz al-Assads Brief an Saddam Hussein
Ein modernes Beispiel für diesen Mechanismus ist der offene Brief des syrischen Präsidenten Hafiz al-Assad an Saddam Hussein am 12. Januar 1991 – wenige Tage vor Beginn der US-geführten Luftangriffe auf den Irak.
Darin bat Assad seinen Erzfeind scheinbar brüderlich um den Rückzug aus Kuwait – ein Appell, der bei vielen Beobachtern eher Verwunderung als Vertrauen auslöste: „Mit aufrichtigen brüderlichen Gefühlen… bitte ich dich, zum Wohle der arabischen Einheit und des Friedens abzuziehen.“⁵
Doch bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass der Brief keine echte Friedensgeste war, sondern ein kalkulierter Schritt zur Rechtfertigung von Assads Bündnis mit der westlichen Koalition.
Die Inszenierung der „Brüderlichkeit“
Drei Beobachtungen machen die Absicht deutlich:
- Der Brief wurde exakt an dem Tag veröffentlicht, an dem US-Außenminister James Baker Damaskus besuchte.
- Die Ausstrahlung erfolgte unmittelbar nach dessen Abreise.
- Der Brief erschien nur fünf Tage vor Ablauf des UN-Ultimatums (17. Januar 1991), das Irak mit Gewalt drohte.⁶
Assads Initiative war reine Symbolpolitik – ein diplomatischer Vorwand, um auf Seiten der USA gegen Saddam vorzugehen, ohne das arabische Gesicht zu verlieren.
Die westliche Strategie: Eskalation statt Deeskalation
Der Westen, allen voran die USA, schien nicht ernsthaft an einer friedlichen Lösung interessiert. Die Sprache des UN-Ultimatums war konfrontativ. Präsident George H. W. Bushs Brief an Saddam war beleidigend formuliert: „Sie haben diesen Krieg begonnen. Er wird erst enden, wenn Sie sich bedingungslos fügen.“⁸
Diese Rhetorik ließ Saddam keine Möglichkeit zum Rückzug – ohne Gesichtsverlust.
Ziel war nicht nur Kuwait – sondern Irak
Alle Anzeichen sprechen dafür, dass es dem Westen nicht nur um die Befreiung Kuwaits ging, sondern um die Zerschlagung der irakischen Infrastruktur. Das Ziel war es, Saddam in eine Sackgasse zu drängen, aus der nur Eskalation blieb.
Darauf wies auch der französische Verteidigungsminister Jean-Pierre Chevènement hin, der aus Protest gegen den Strategiewechsel – von Befreiung zu Vernichtung – zurücktrat.⁹
Diplomatie als Illusion
Assads Brief war nie dazu gedacht, Saddam zu überzeugen. Er war ein Stück politisches Theater. Die USA hatten längst entschieden, dass Saddam den „Point of No Return“ überschritten hatte.
Wiederholt sich das Muster heute mit dem Iran?
Ein ähnliches Szenario scheint sich derzeit mit Iran zu entwickeln. Offiziell gaben sich westliche und israelische Stimmen lange zurückhaltend. Präsident Biden erwähnte in seiner saudischen Forum-Rede nicht einmal den Frieden mit Israel – ein Signal, das in Teheran als Chance gedeutet wurde.
Doch dann begannen Luftangriffe auf iranische Militäranlagen. Iran reagierte, und Washington drohte prompt: „Kehrt an den Verhandlungstisch zurück – oder die kommenden Tage werden härter.“ Manche Aussagen griffen Irans obersten Führer Khamenei persönlich an – und machten eine Deeskalation politisch unmöglich.
Wie Abu Lahab oder Saddam scheint auch das iranische Regime an einem Punkt angekommen zu sein, an dem ein Rückzug gleichbedeutend wäre mit Gesichtsverlust und Kontrollverlust.
Zurück zur Ausgangsfrage: Was, wenn Abu Lahab übergetreten wäre?
Bei einem Besuch des verstorbenen syrischen Intellektuellen Dr. Muhammad Shahrour stellte ich ihm dieselbe Frage: Was wäre gewesen, wenn Abu Lahab nach der Offenbarung der Sure al-Masad den Islam angenommen hätte?
Er beugte sich vor und sagte leise: „Die Amerikaner warteten fünf Monate, bis sie Assad erlaubten, den Brief an Saddam zu schicken – erst, nachdem klar war, dass es kein Zurück mehr gab. Glaubst du nicht, dass Abu Lahab nach vier Jahren bitterer Feindschaft an demselben Punkt war?“
Fazit
Ideologische Verhärtung führt dazu, dass Menschen und Staaten selbst angesichts des Untergangs nicht mehr umkehren können. Der „Point of No Return“ wird zur psychologischen und politischen Falle.
Die einzige Lösung liegt in der Offenheit für Pluralismus, in der Akzeptanz von Widerspruch – und in der Erkenntnis, dass Vielfalt auf Erden ein Spiegel der Einheit Gottes im Himmel ist. Der Prophet ﷺ sagte: „Reinheit ist Teil des Glaubens.“ In diesem Sinne könnte auch Pluralismus Teil des Glaubens sein.
- Ibn al-Athir, Al-Kāmil fī al-Tārīkh; al-Ṭabarī, Tārīkh al-Rusul wa al-Mulūk (Year 2 AH).
- Ṣaḥīḥ al-Bukhārī, Book of Tafsīr.
- S. al-Zurqānī, Sharḥ al-Mawāhib al-Ladunniyyah.4. Frederic Bartlett, Thinking, 1958.
- Transkript der Rede Assads, Syrian News Agency Archives (January 1991).
- UN Sicherheitsrats-Resolution 678, 29. November, 1990.
- Ebda.
- George H. W. Bush, Brief an Saddam Hussein, Januar 1991.
- Le Monde, “Chevènement démissionne,” Januar 1991.