Die Islamaffinität in der sogenannten identitätslinken Szene stellt ein erstaunliches Phänomen dar. Denn dass queere Menschen in islamisch dominierten Ländern an Leib und Leben gefährdet sind, müsste zu der Einsicht führen, dass es keine Allianzen geben kann zwischen diesen Welten. Trotzdem gibt es sie. Die gängige Erklärung dafür lautet, dass man die im Westen lebenden Muslime als das neue Proletariat betrachte, als die Unterprivilegierten. Deshalb wollten Woke diese Schicht vor der alles verschlingenden Macht des Marktes und vor dem weissen rassistischen Kolonialismus schützen. Die Mutter der Gender-Ideologie, Judith Butler, hat etwa behauptet, die Burka sei der Protest muslimischer Frauen dagegen, „von der Massenkultur ausgebeutet zu werden“.
Neben der altbekannten neomarxistischen Gesellschaftskritik gibt noch weitere erklärungsbedürftige Auffälligkeiten. So stimmen der „Wokeismus“ und der Islam darin überein, die Gleichheit abzulehnen, wie sie im Westen verstanden wird. Im islamischen Denken definiert die Religionszugehörigkeit auch den politischen und den bürgerlichen Status des Menschen: Man ist entweder Muslim, Schriftbesitzer (Jude oder Christ) oder Ungläubiger. Und als Angehöriger einer dieser Gruppen partizipiert man in abgestufter Weise an der politischen Mitbestimmung und an den Bürgerrechten. Der „Wokeismus“ ist von einem verwandten Denken geprägt, denn er fokussiert nicht auf das Individuum, dem bereits als solchem, „von Natur aus“, unveräusserliche Rechte zukommen. Vielmehr werden voraufklärerisch die Menschen als Angehörige von Gruppen adressiert. Es sind nicht mehr der Klerus, der Adel und das Volk des Ancien Régime, die den woken Ständestaat bilden. Es sind heute die Schwarzen, die Weissen, die Juden, die Muslime, die Queeren, die Lesben, die Palästinenser und fast beliebig viele andere Gruppen.
Ironie der Geschichte oder Tragödie: Die Woken und ihre identitätslinken Sympathisanten befinden sich damit in guter Gesellschaft mit den antiaufklärerischen Reaktionären alter Tage. Deren Wortführer Joseph de Maistre notierte im Jahr 1796: „Es gibt auf Erden keinen Menschen schlechthin. Ich habe in meinem Leben Franzosen, Italiener, Russen usw. gesehen. Einen Menschen aber, erkläre ich, nie im Leben gesehen zu haben. Maistres Geistesverwandter Louis de Bonald stellte den der Aufklärung verpflichteten philosophischen Schulen, die das Individuum, das Ich, ins Zentrum ihres Denkens gestellt hatten, die althergebrachte „Philosophie des Wir“ entgegen. Die Pronomen des Ich und des Wir würden präzis die Unterschiede zwischen dem vor- und dem nachaufklärerischen Philosophieren beschreiben.
Nicht nur die freie, offene Gesellschaft, wie sie aus der Aufklärung hervorgegangen ist, steht auf dem Index sowohl des radikalen Islam wie der links-woken Postchristen, sondern auch das Judentum und das Christentum. Gleichzeitig wird der Islamismus verharmlost. Die faktische Negierung oder zumindest die banalisierende Kontextualisierung der Ereignisse in Israel vom 7. Oktober 2023 führen es der Welt vor Augen. Nicht nur Verharmlosung und fehlende Abgrenzung weisen auf die Anschlussfähigkeit zwischen radikalem Islam und linkem „Wokeismus“ hin. Die Spurensuche führt zur Theologie. Tocqueville hat die These vertreten, jede Religion werde von einer ihr verwandten politischen Meinung begleitet. Er hat damit das Diktum von Carl Schmitt vorweggenommen, alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre seien säkularisierte theologische Begriffe. Explizit wandte Tocqueville seine Einsicht auf das Verhältnis zwischen dem Christentum und den aus der Aufklärung sowie der Französischen Revolution hervorgegangenen Gesellschaften an: „Unter den wirklich neuen Dingen scheint sich mir die Mehrheit direkt aus dem Christentum herzuleiten. Es ist Christentum, angewandt durch die Aufklärung im weitesten Sinn: andere politische Formen, ein unterschiedliches soziales Gefüge. Das sind, in einem Wort, neue Folgerungen, gezogen aus einem alten Prinzip.“
Unter dieser Prämisse betrachtet, stehen hinter den erwähnten Frontstellungen zwei miteinander nicht vereinbare, teilweise säkularisierte Gottesbilder, die dann zwei unterschiedliche Menschenbilder zur Folge haben. Das jüdisch-christliche Verständnis Gottes besagt, dass er die Urvernunft ist und die Welt vernünftig geschaffen hat. Deshalb ist Gott in den Werken seiner Schöpfung erkennbar, wie Paulus im Römerbrief sagt. Der Mensch partizipiert zudem als Ebenbild Gottes an dessen Vernunft. Darum kann er die Natur verstehen und weitergestalten. Das jüdisch-christliche Gottes- und Menschenbild legitimiert solches Tun. Es ist die Grundlage des aufklärerischen Vertrauens in die Kraft der Vernunft und in deren Fähigkeit, die Welt wissenschaftlich-rational zu verstehen und zu prägen.
Demgegenüber trägt der Gott der Muslime stark willensmässige, voluntaristische Züge. Die Widersprüche in seinem Verhalten, wie sie in den religiösen Schriften enthalten sind, haben dazu geführt, dass eine rationale Theologie wenig Boden gewinnen konnte. Es herrschen deshalb Rechtsgelehrte vor, die den Staat und die Gesellschaft nach religiösen Gesetzen ordnen, im Namen der fatalistischen Unterwerfung der Gläubigen unter einen absolut transzendent gedachten Willensgott. Ein so verstandener Gott kann auch nicht der Urheber einer Natur sein, die gemäss rationalen Gesetzen waltet. Dies führt dazu, dass die naturwissenschaftliche Erforschung der Welt religiös nicht legitimiert und der Schöpfer nicht in den Spuren der Natur gesucht wird.
Die Gender-Ideologie ist hier anschlussfähig. Denn sie strotzt von einem säkularisierten irrationalen Voluntarismus, der den Menschen gottähnlich über seine biologische Natur hinausheben will. Linke postchristlich dominierte Staaten folgen diesem Irrationalismus, indem sie es ermöglichen, dass man, bar jeder Naturwissenschaft, sein Geschlecht „ändern“ kann. Diese Philosophie – wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt – ist nicht nur eine Abkehr von der christlich-partizipativen Geschöpflichkeit des Menschen, sondern auch von einem aufgeklärt-naturwissenschaftlichen Humanismus. Den Juden und Christen blieb zwar immer bewusst, dass Gottes Wege unerforschlich sind. Aber sie wussten sich zugleich intellektuell aufgehoben in der Rationalität Gottes, der Schöpfung und des Menschen. Darauf hat die Aufklärung aufgebaut. In der Folge hat sie sich in Teilen von ihrer Herkunft aus dem jüdisch-christlichen Gottes- und Menschenbild emanzipiert. Das sollte im Sinne des deutschen Soziologen Jürgen Habermas im Westen Anlass sein für eine „selbstreflexive Überwindung eines säkularistisch verhärteten und exklusiven Selbstverständnisses der Moderne“. Denn nur so kann der Westen den gegenwärtigen Irrationalismen inhaltlich begründeten Widerstand leisten.
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