Die dramatische Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu bei einer Razzia in den frühen Morgenstunden markiert einen neuen Tiefpunkt in der anhaltenden Abkehr der Türkei von demokratischen Grundprinzipien. Beobachter und Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdoğan werten die Maßnahme als gezielten Versuch, den populären Oppositionspolitiker – und womöglich einzigen ernstzunehmenden Herausforderer des Präsidenten – vor den nächsten Wahlen kaltzustellen. Diese könnten zwar erst 2028 stattfinden, doch in politischen Kreisen wird mit einem vorgezogenen Urnengang gerechnet.
İmamoğlu, einer der bekanntesten Köpfe der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), war 2019 mit einem historischen Wahlsieg an die Spitze der Istanbuler Stadtverwaltung gewählt worden und hatte damit die jahrzehntelange Kontrolle der Regierungspartei AKP über die Metropole gebrochen. Seine Wiederwahl trotz massiver politischer und juristischer Hürden machte ihn landesweit zu einem Symbol des Widerstands gegen die wachsende Autoritarisierung unter Erdoğan.
Nun steht İmamoğlu gemeinsam mit über 100 weiteren Personen – darunter hohe Beamte der Stadtverwaltung sowie der Chef eines kommunalen Bauunternehmens – unter schwerwiegendem Verdacht. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen Korruption, Veruntreuung öffentlicher Mittel und Amtsmissbrauch vor. İmamoğlu weist sämtliche Anschuldigungen entschieden zurück und sieht in dem Verfahren eine politisch motivierte Kampagne, um ihn aus dem Rennen zu nehmen. Besonders umstritten ist auch ein weiterer Vorwurf: İmamoğlu soll durch seine zeitweilige Kooperation mit einem linken Parteienbündnis im Vorfeld der Kommunalwahl 2023 „Terrorismus“ unterstützt haben – ein Vorwurf, der von Menschenrechtsorganisationen als politisch konstruiert bewertet wird.
Justizminister Yılmaz Tunç bemühte sich unterdessen, jeden Eindruck einer politischen Einflussnahme auf die Ermittlungen von sich zu weisen. In einer scharf formulierten Erklärung sagte er: „Es ist anmaßend und unverantwortlich, den Versuch zu unternehmen, diese juristischen Verfahren mit dem Präsidenten in Verbindung zu bringen.“ Doch für viele wirkt diese Abgrenzung wenig überzeugend – gerade in einem politischen Klima, in dem die Unabhängigkeit der Justiz schon seit Jahren in Frage steht.
Tatsächlich hat Erdoğan nie einen Hehl daraus gemacht, dass er Istanbul wieder zurückerobern will – jene Stadt, in der er selbst seine politische Laufbahn begann. Die Niederlagen in den Kommunalwahlen von 2019 und 2023 gelten als eine seiner empfindlichsten politischen Schlappen. Umso größer war die Freude vieler Bürgerinnen und Bürger, als sie nach Bekanntwerden der Festnahmen trotz eines Versammlungsverbots spontan auf die Straße gingen. In zahlreichen Stadtteilen, insbesondere in den urbanen Oppositionshochburgen, kam es zu Protestmärschen, Sprechchören gegen die Regierung und vereinzelten Konfrontationen mit Sicherheitskräften.
Die Reaktionen aus der Zivilgesellschaft und internationalen Beobachterkreisen lassen wenig Zweifel daran, dass der Fall weitreichende politische Folgen haben könnte. Sollte İmamoğlu verurteilt werden, droht ihm nicht nur eine Gefängnisstrafe, sondern auch ein politisches Betätigungsverbot – wie es bereits mehreren Erdoğan-Kritikern widerfahren ist. Damit würde ein möglicher Gegenkandidat für die Präsidentschaftswahl ausgeschaltet, lange bevor der eigentliche Wahlkampf beginnt.
Die Festnahme Istanbuls populären Bürgermeisters ist somit weit mehr als ein juristischer Einzelfall – sie ist ein Fanal für den Zustand der türkischen Demokratie, ein Symbol für den wachsenden Autoritarismus und ein bitterer Rückschlag für alle, die auf Reformen und politische Öffnung gehofft hatten.
Die türkischen Behörden reagierten mit einer massiven Ausweitung der Sicherheitsmaßnahmen, um die Proteste zu unterbinden. In Istanbul wurde der Verkehr über die beiden Bosporusbrücken in Richtung des Rathauses blockiert, mehrere zentrale Straßen wurden von Spezialeinheiten der Polizei abgesperrt. Präsident Recep Tayyip Erdoğan kritisierte unterdessen scharf die Aufrufe zum Protest, insbesondere durch den Vorsitzenden der oppositionellen CHP: „Die Türkei ist kein Land, das sich auf der Straße entscheiden lässt – wir werden uns keinem Straßenterror beugen.“
Während im Inland die Empörung über die Festnahme İmamoğlus wächst, blieb die internationale Reaktion bislang verhalten. Am deutlichsten spürbar war die Reaktion an den Finanzmärkten: Die türkische Zentralbank soll Schätzungen zufolge am Tag nach İmamoğlus Verhaftung 11,5 Milliarden US-Dollar eingesetzt haben, um die abstürzende Lira zu stützen. Investoren zogen sich offenbar in großer Zahl zurück, der Kurs der Landeswährung sackte deutlich ab.
Offizielle politische Reaktionen aus dem Ausland fielen hingegen diplomatisch zurückhaltend aus. Ein Sprecher von UN-Generalsekretär António Guterres äußerte lediglich die Hoffnung, dass „die üblichen rechtsstaatlichen Verfahren eingehalten“ würden. Die Sprecherin des US-Außenministeriums, Tammy Bruce, erklärte: „Wir kommentieren keine internen Entscheidungsprozesse anderer Staaten.“
Kurz vor İmamoğlus Verhaftung hatte Präsident Donald Trump ein Telefongespräch mit Erdoğan geführt – laut Medienberichten sucht der türkische Präsident gezielt ein Treffen im Weißen Haus. Der neue US-Nahost-Beauftragte Steve Witkoff bezeichnete das Gespräch gegenüber dem rechtsgerichteten Kommentator Tucker Carlson als „transformativ“ und lobte: „Ich denke, es gibt viele positive Signale aus der Türkei.“
Ein Analyst des Middle East Institute ordnete dies so ein: „Das internationale Klima stärkt Erdoğans Selbstvertrauen. Wenn der US-Präsident sich nicht mehr für demokratische Rückschritte in anderen Ländern interessiert, gibt das Autokraten wie Erdoğan zusätzlichen Spielraum.“
Auch aus Europa, wo es früher rasch Kritik an der türkischen Regierung gegeben hatte, blieb die Resonanz bislang zurückhaltend. Beobachter führen dies auch auf die veränderte geopolitische Lage zurück: Mit Trumps zunehmender Nähe zu Russland im Ukraine-Konflikt fürchten europäische Regierungen eine Destabilisierung der NATO-Ordnung und setzen verstärkt auf Kooperation mit Ankara, etwa bei der Stationierung von Friedenskräften.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen war bislang die ranghöchste europäische Stimme, die sich äußerte. Sie erklärte, die Türkei müsse „demokratische Werte schützen – insbesondere die Rechte gewählter Amtsträger“.