Von Yasser Hassoun
Zusammenfassung:
In diesem zum Nachdenken anregenden Beitrag versucht Yasser Hassoun, die seiner Ansicht nach zentrale Ursache der Stagnation im arabisch-islamischen Denken zu diagnostizieren. Er argumentiert, dass echte Reform, Erneuerung und Aufklärung nur dann gelingen können, wenn die strukturellen Mängel angegangen werden, die tief im intellektuellen und kulturellen Gefüge der Region verankert sind – Mängel, die fälschlicherweise oft dem Islam selbst zugeschrieben wurden, obwohl der Glaube in Wahrheit unschuldig daran ist.
Hassoun identifiziert drei zentrale Säulen, die diese intellektuelle Starre aufrechterhalten: Überlieferung, Auswendiglernen und Diktat. Diese Elemente, so seine These, seien die Hauptverantwortlichen dafür, dass Kreativität, kritisches Denken und eigenständige Urteilsbildung in arabisch-muslimischen Gesellschaften unterdrückt werden.
Das Papier ist vor dem Hintergrund einer Region verfasst, die bestrebt ist, ihren rechtmäßigen Platz in der modernen Welt zurückzugewinnen – einer Welt, in der diese Gesellschaften zwar über die nötigen Ressourcen und Potenziale für Fortschritt und Entwicklung verfügen, diese jedoch nicht zur Entfaltung bringen.
Themen:
- Einleitung
- Warum Autoritarismus und Diktatur tief in unserer Kultur verankert sind
- Die Triade der intellektuellen Stagnation im arabisch-islamischen Denken
- Die erste Säule: Überlieferung
- Die zweite Säule: Auswendiglernen
- Die dritte Säule: Diktat
- Die Folgen dieser Triade für das muslimische Denken
- Freiheit – das vergessene Opfer
Einleitung:
Am 8. Dezember 2024 erschütterte ein politisches Erdbeben Syrien: Das seit Jahrzehnten herrschende Regime, das mehr als fünfzig Jahre an der Macht gewesen war, brach endgültig zusammen. Der Diktator floh und hinterließ ein Land zwischen Freude und Ungewissheit.
Die folgenden Szenen waren außergewöhnlich. Syrer strömten jubelnd auf die Straßen und ignorierten dabei die Warnungen, dass ihre „Befreier“ aus Idlib in Wahrheit radikale islamistische Gruppen seien. Ebenso schienen sie den israelischen Luftangriffen keine Beachtung zu schenken, obwohl diese auf Überreste jener Armee zielten, die sie jahrelang unterdrückt hatte. Dieselbe Armee, die einst als Verteidigerin der Nation galt, war zu einer Gefahr für das eigene Volk geworden.
Und doch tanzten die Menschen auf den Straßen. Für sie markierte der Sturz der Diktatur einen Neuanfang – eine Chance, sich ihr Land zurückzuerobern.[1]
Warum Autoritarismus und Diktatur tief in unserer Kultur verankert sind
Auf der Suche nach den Wurzeln des Autoritarismus und der weit verbreiteten Ablehnung des „Anderen“ in großen Teilen arabischer Gesellschaften stoßen wir auf die grundlegenden Prinzipien eines tradierten Bildungssystems – Praktiken, die über Jahrhunderte hinweg Bestand hatten und bis heute das soziale Gefüge prägen. Zu diesen Grundpfeilern zählen drei zentrale Säulen, die der Autor als „Triade der Stagnation“ des arabischen Denkens bezeichnet: Überlieferung (naql), Auswendiglernen (hifz) und Diktat (imlaa).
Und so stellen wir erneut die fundamentale Frage: Können wir wirklich erklären, warum Autoritarismus und Diktatur so tief in unserem kulturellen Erbgut verankert sind? Um eine Antwort zu finden, müssen wir zunächst diese drei erkenntnistheoretischen Grundpfeiler analysieren – jahrhundertelang von traditionalistischen Gelehrten als sakrosankt betrachtet – und untersuchen, wie sie das zeitgenössische arabisch-muslimische Denken im 21. Jahrhundert weiterhin prägen. Erlauben diese Denkmuster überhaupt moderne Konzepte wie Demokratie, Menschenrechte und Meinungsfreiheit? Oder zwingen sie den Geist in ein rigides System, das jede intellektuelle Weiterentwicklung blockiert?
Auch wenn es unfair wäre, die Vergangenheit mit den Maßstäben der Gegenwart zu messen, und obwohl diese Methoden ihren Zweck in früheren Epochen erfüllt haben mögen, ist der Autor überzeugt: In einer Welt, die von kritischer Reflexion, offenem Dialog und Bildungsreformen geprägt ist, sind sie nicht mehr zeitgemäß. Dennoch betrachten viele Verteidiger der religiösen Tradition diese Säulen weiterhin als unantastbare Dogmen – immun gegen Kritik, immun gegen Wandel.
Die Triade der intellektuellen Stagnation im arabisch-islamischen Denken
Erste Säule: Überlieferung (Naql)
Wir beginnen mit der ersten und vielleicht am meisten verehrten Säule: naql, der heiligen Praxis der Überlieferung.
Die Vormachtstellung der Überlieferung gegenüber der Vernunft ist seit Langem in einer bekannten Maxime der islamischen Gelehrsamkeit verankert: „Überlieferung, nicht Vernunft“ (النقل لا العقل). Diese Formel spiegelt ein tief verwurzeltes erkenntnistheoretisches Vorurteil wider, das das überlieferte Wort über den rationalen Geist erhebt. Damit stellt sie göttliche Offenbarung und überlieferte Tradition über jede Infragestellung – auf Kosten des kritischen Denkens.
Diese Erhebung des Überlieferten führte zur Entstehung ganzer Disziplinen innerhalb der islamischen Wissenschaften, wie etwa der Hadith-Wissenschaft und der Biografischen Bewertung der Überlieferer (al-jarh wa al-ta’dil). Generationen von Gelehrten widmeten sich der Klassifizierung von Überlieferungen, der Bewertung ihrer Überlieferungsketten und der Konstruktion komplexer Hierarchien der Authentizität – ein Prozess, der paradoxerweise intellektuelle Forschung in eine forensische Suche nach historischer Beglaubigung verwandelte.
Die Auswirkungen dieses Ansatzes sind weitreichend. Wissenschaftliche Erkenntnis wird – durch diese Linse betrachtet – nicht als zukunftsgerichtetes Streben verstanden, sondern als rückwärtsgewandte Suche nach einer Wahrheit, die irgendwo in der Vergangenheit vergraben liegt. Ein prominenter Denker drückte es so aus:
„Wissenschaftliche Erkenntnis wird zur Suche nach einer verlorenen Wahrheit, tief verborgen in der Vergangenheit. Man muss die frühen Generationen befragen – Jahrhundert um Jahrhundert –, um sie zu finden. Doch nur, wenn sie eine ‚authentische‘ Überlieferung weitergegeben haben, die den Kriterien der Gewissheit entspricht.“[2]
Diese Verehrung des naql verdrängt somit das menschliche Denkvermögen – jenes göttliche Geschenk, das dem Menschen zur Unterscheidung und Innovation verliehen wurde. Sie ersetzt offene Forschung durch starre Autorität. Und sie erhebt die Worte früherer Generationen zur absoluten Grenze des Wissens – statt zu einem Fundament, auf dem Neues entstehen kann.
Ein oft zitiertes Beispiel zur Rechtfertigung der Vorrangstellung der Überlieferung gegenüber der Vernunft ist eine berühmte Überlieferung von Ali ibn Abi Talib:
„Wenn die Religion auf der Meinung beruhte, dann wäre es sinnvoller, die Unterseite der Ledersocken abzuwischen als die Oberseite. Und doch sah ich den Gesandten Gottes (Frieden sei mit ihm), wie er über die Oberseite seiner Socken wischte.“
Aus dieser Überlieferung wird häufig der Schluss gezogen, dass die Offenbarung über der Vernunft steht – denn wir wissen schlicht nicht, warum der Prophet so und nicht anders handelte. Doch selbst wenn man die Authentizität dieser Überlieferung akzeptiert – ist es gerechtfertigt, daraus eine allgemeingültige Regel für alle Aspekte der Religion abzuleiten?
Bemerkenswert ist, wie oft bei der Priorisierung überlieferter Erkenntnis kein Unterschied gemacht wird – göttliche Texte und menschliche Interpretationen werden gleichermaßen für unantastbar erklärt. Ihre Autorität leiten sie nicht aus sich selbst ab, sondern allein daraus, dass Menschen – also Gelehrte wie wir – sie als „authentisch“ eingestuft haben, obwohl die Kriterien für diese Authentizität von Rechtsschule zu Rechtsschule variieren.
Zweite Säule: Auswendiglernen
Als natürliche Konsequenz dieser Ehrfurcht vor dem Überlieferten auf Kosten der Vernunft reduziert sich die Rolle des Intellekts auf das Auswendiglernen. In diesem Kontext gilt das Memorieren als höchstes Maß für Exzellenz und Gelehrsamkeit. Je mehr jemand auswendig weiß, desto höher steigt er auf der Leiter religiöser Autorität – oft ohne dass kritisches Denken oder selbstständige Urteilsfähigkeit erforderlich wären.
Dieser Mechanismus erklärt, warum viele der angesehensten Gelehrten der islamischen Geschichte den Titel „Al-Hafiz“ (Der Bewahrer) trugen – ein Ehrentitel, vergleichbar mit einem heutigen akademischen Rang wie Professor. Er beschrieb nicht nur ihr Gedächtnis, sondern war ein formeller Ausdruck ihres wissenschaftlichen Rangs.
Hier einige der zahllosen Gelehrten, die diesen Ehrentitel trugen: Al-Hafiz Ibn Kathir, Al-Hafiz Ibn Hajar al-Asqalani, Al-Hafiz Al-Suyuti, Al-Hafiz Abu Abdullah Al-Hakim Al-Naysaburi, Al-Hafiz Shams al-Din Al-Dhahabi und Al-Hafiz Abu al-Qasim al-Dimashqi – um nur einige zu nennen.
Die dritte Säule: Das Diktat
Wenn die Überlieferung den Text heiligt und das Auswendiglernen zur einzigen Funktion des Verstandes wird, dann ergibt sich das Diktat zwangsläufig als primäre – wenn nicht sogar einzige – Methode der Wissensvermittlung. In einem solchen System verleiht die Heiligkeit des überlieferten Textes dem Diktat seine unangetastete Autorität. Die Rolle der Lernenden ist einfach: zuhören, auswendig lernen und den Text exakt so wiedergeben, wie er empfangen wurde – ohne Fragen, ohne Überprüfung, ohne kritisches Nachdenken.
Diese Lernmethode stellt das Diktat auf eine Stufe mit Überlieferung und Auswendiglernen – alle drei beruhen auf der unhinterfragten Heiligkeit des Ausgangsmaterials. Und genau hier liegt ein subtiler, aber tiefgreifender kultureller Zusammenhang: Das arabische Wort für Diktat (إملاء – imlāʾ) entspricht seinem englischen Pendant „dictation“, das wiederum aus demselben lateinischen Wortstamm stammt wie „Diktator“.
Ein Diktator ist per Definition jemand, der spricht, ohne dass ihm widersprochen wird, dessen Worte keiner Prüfung unterzogen werden und dessen Autorität absolut ist. Es ist kein Zufall, dass das arabisierte Wort für Diktator – diktātūr (دكتاتور), mit dem ein Tyrann oder Autokrat bezeichnet wird – genau dieselbe sprachliche Wurzel teilt.
Die Folgen dieser Triade für das muslimische Denken
Damit stellt sich eine wichtige Frage: Sind das nicht genau die Eigenschaften, die die traditionellen religiösen Texte auszeichnen, die wir von früheren Generationen geerbt haben? Ist es nicht genau dieses Beharren darauf, dass alles, was von den Vorfahren überliefert wurde, jenseits von Zweifel oder Kritik stehe, das von religiösen Autoritäten verteidigt wird? Und ist nicht jeder Versuch, dieses religiöse Erbe infrage zu stellen oder auch nur zu hinterfragen, historisch mit Häresie- oder gar Abfallsvorwürfen beantwortet worden? Die Antwort ist eindeutig: Ja.
Diese Realität zwingt uns dazu anzuerkennen, dass die Wurzeln des Autoritarismus tief in unserer Kultur verankert sind. Aus diesem Grund begegnen wir den Freiheitsversprechen mancher islamischer Gruppen mit Misstrauen – weil ihr Denken weiterhin in der Dreieinigkeit des Autoritarismus gefangen bleibt: Auswendiglernen, Nachahmung und blinder Gehorsam.
Können wir angesichts dieser Tatsachen nicht schließen, dass der Autoritarismus seine Legitimation wesentlich aus den Bildungs- und Kulturmustern bezieht, die von jenen vertreten werden, die das religiöse Erbe blind verteidigen? Von jenen, die sich weigern, zwischen göttlichem Ursprung und menschlicher Auslegung zu unterscheiden, und die die radikal anderen historischen Kontexte ignorieren, in denen dieses Erbe entstanden ist?
So sehr wir anerkennen, dass der Koran – das offenbarte Buch – heilig ist, so dringlich ist es, Alarm zu schlagen gegen die Ausweitung dieser Heiligkeit auf alle anderen Texte, die von Menschen verfasst wurden – unabhängig von deren Rang oder Bedeutung innerhalb der islamischen Tradition.
Diese kulturelle Krise wurde besonders offensichtlich, als bestimmte islamistische Gruppen in verschiedenen arabischen und muslimischen Ländern an die Macht kamen – sei es dort, wo sie noch regieren, oder dort, wo sie durch politische Umbrüche gestürzt wurden. Diese Erfahrungen legten ein tiefes zivilisatorisches Dilemma offen: Der Versuch, Gesellschaften zu regieren, brachte die ideologischen und intellektuellen Grenzen dieser Gruppen klar zum Vorschein.
Nach ihrer Machtergreifung versuchten sie, das umzusetzen, was sie für eine universelle und zeitlose Form der Religion hielten. Tatsächlich aber setzten sie überlieferte religiöse Traditionen um – in dem Glauben, es handle sich um absolute Wahrheiten, die keiner Prüfung oder Reform bedürften. Sie heilten diese Traditionen, als seien sie göttliche Offenbarung selbst, ohne zwischen dem Wort Gottes und dessen historisch-menschlicher Auslegung zu unterscheiden. Das Ergebnis war ein starres, ausschließendes Diskursmodell, das keine abweichenden Meinungen duldete, Andersdenkende verteufelte und Kritiker zu Ungläubigen erklärte – mit katastrophalen Folgen für die betroffenen Gesellschaften, von denen viele bis heute andauern.
Freiheit – das vergessene Opfer
Der Begriff der Freiheit – wie wir ihn heute verstehen, als Freiheit des Denkens, der Meinungsäußerung und des Glaubens – lag völlig außerhalb des geistigen Horizonts der frühen Gelehrten, die das islamische Erbe begründet haben. Diese Tatsache erfordert es, dass wir dieses Erbe als ein menschliches Produkt begreifen – begrenzt durch die historischen Kontexte und intellektuellen Bedingungen seiner Entstehung. Es ist an der Zeit, dass wir aufhören, dieses Erbe unkritisch zu verehren, und uns stattdessen dem Ursprungstext – dem Koran – auf Grundlage unserer heutigen Realität, unseres Denkens und unserer gesellschaftlichen Bedürfnisse zuwenden.
Wenn wir den Vers 29 aus der Sure Al-Kahf lesen: „Und sprich: Die Wahrheit ist von eurem Herrn. Wer will, der glaube, und wer will, der leugne!“, so finden wir darin eine bemerkenswerte Bestätigung dafür, dass der Mensch die vollständige Freiheit besitzt, zu glauben oder nicht zu glauben. Dieser Vers macht deutlich, dass die koranische Offenbarung selbst das Prinzip menschlicher Freiheit anerkennt – bis hin zur Freiheit des Unglaubens.
Eine zeitgenössische Lektüre des Korans zeigt zudem, dass Freiheit tief in dessen Struktur verwurzelt ist – im göttlichen Wort, das allem Menschlichen vorausgeht. Der Koran erkennt Vielfalt und Pluralität als Grundpfeiler menschlichen Lebens an, wie in Vers 118 der Sure Hud klar formuliert wird: „Und wenn dein Herr gewollt hätte, hätte Er die Menschen zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Doch sie werden nicht aufhören, uneins zu sein …“
Die grammatische Struktur dieses Verses zeigt, dass es nicht im göttlichen Willen lag, die Menschheit zu einer homogenen Einheit zu formen. Im Gegenteil: Menschen werden immer verschieden sein. Und der nächste Vers bestätigt, dass diese Vielfalt nicht nur unvermeidlich, sondern gewollt ist: „Außer denen, über die sich dein Herr erbarmt – und zu diesem Zweck hat Er sie erschaffen.“
Vielfalt führt unweigerlich zu einer Vielzahl an Meinungen, Ideen und Glaubensformen – und all diese müssen in jeder Gesellschaft geschützt werden, die göttliche Werte aufrechterhalten will.
Tatsächlich sind Freiheit und Verschiedenheit untrennbar miteinander verbunden – denn Verschiedenheit ist eine direkte Folge von Freiheit, und Freiheit ein Ausdruck des göttlichen Willens. Dies wird auch im Vers 19 der Sure Yunus bekräftigt: „Die Menschen waren eine einzige Gemeinschaft, dann aber wurden sie uneins. Und wenn nicht ein Wort von deinem Herrn vorausgegangen wäre, so wäre zwischen ihnen sogleich über das, worüber sie uneins waren, entschieden worden.“[3]
Dieses „Wort deines Herrn“ steht für Gottes vorangegangene Entscheidung, den Menschen ihre Freiheit zu gewähren – eine Freiheit, die zwangsläufig zu Verschiedenheit führt. Der Zusammenhang zwischen dem Zweck der Schöpfung – „und zu diesem Zweck hat Er sie erschaffen“ – und dem Prinzip der Freiheit ist unübersehbar.
[1] Georges Tarabichi, Häresien, Dar Al-Saqi, Beirut 2006, S. 13.
[2] Muhammad Sa’id Ramadan al-Bouti, Die größten kosmischen Gewissheiten, Dar Al-Fikr, Damaskus 1993, S. 35.
[3] Muhammad Shahrour, Religion und Autorität: Eine zeitgenössische Lektüre von Herrschaft, Dar Al-Saqi, Beirut 2014, S. 269–270.