Mit jeder Eskalation im Nahen Osten wächst auch die Bedrohungslage in Europa. Der Gaza-Krieg wirkt nicht nur auf diplomatische Beziehungen und gesellschaftliche Debatten, sondern auch als strategische Projektionsfläche für islamistische Netzwerke auf dem Kontinent. Behörden in Deutschland, Frankreich, Österreich und Skandinavien schlagen Alarm: Der Konflikt nährt eine neue Welle der Radikalisierung – strategisch orchestriert und sicherheitspolitisch ernst zu nehmen.
Geheimdienste sehen strategische Mobilisierung
Der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) warnte bereits im Februar 2025 in einem vertraulichen Lagebericht, dass „aus dem Gaza-Konflikt ein dauerhaftes Mobilisierungspotenzial für salafistische und dschihadistische Gruppen in Europa“ erwachse. Demnach nutzen Akteure wie Hamas-nahe Organisationen, salafistische Prediger und islamistische NGO-Strukturen den Krieg nicht nur propagandistisch, sondern auch operativ: zur Rekrutierung, zur Spendenakquise und zum gezielten Aufbau von Parallelstrukturen.
In Frankreich ist die Einschätzung ähnlich. Der Inlandsgeheimdienst DGSI hat eigenen Angaben zufolge in den letzten sechs Monaten mehr als 400 Online-Accounts mit „signifikanten Radikalisierungstendenzen“ identifiziert, die in direktem Zusammenhang mit Gaza-bezogener Propaganda stehen. Diese Accounts seien nicht nur agitatorisch, sondern „zum Teil aktiver Bestandteil transnationaler Netzwerke“, die auf „Mobilisierung, Finanzierung und klandestine Vernetzung“ ausgerichtet seien.
Neue Rollen hybrider Akteure
Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei sogenannten „legalistischen Islamisten“ – Akteuren, die nicht offen zur Gewalt aufrufen, aber strategisch auf die Erosion staatlicher Autorität und demokratischer Strukturen hinarbeiten. In Deutschland stehen Organisationen im Fokus, die ideologisch mit der Muslimbruderschaft oder der Hizb ut-Tahrir verbunden sind, darunter auch islamische Kulturvereine, die in Reaktion auf den Gaza-Krieg neue Mobilisierungskampagnen gestartet haben.
Nach Einschätzung des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ) zeigen sich islamistische Akteure zunehmend flexibel: „Sie agieren mit hoher taktischer Intelligenz, passen sich schnell an die Rhetorik legitimer Protestbewegungen an und tarnen Radikalisierung als Menschenrechtsaktivismus“, heißt es in einer internen Analyse.
Anschlagsgefahr auf mittlerem Niveau – mit Ausreißern
Trotz der erhöhten Aktivitäten sehen Sicherheitsbehörden in Deutschland und Frankreich die unmittelbare Anschlagsgefahr derzeit auf einem mittleren Niveau. „Wir befinden uns nicht im Zustand konkreter Anschlagswarnungen, aber im Umfeld einzelner Moscheevereine und Onlinekanäle beobachten wir klare Radikalisierungsverläufe, die in Gewalt münden können“, so ein Sprecher des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) gegenüber dieser Redaktion.
Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin berichtete zuletzt, dass in Marseille, Paris und Lyon insgesamt fünf Ermittlungsverfahren gegen Rückkehrer aus dem syrisch-irakischen Kriegsgebiet laufen, die seit Herbst 2023 wieder Kontakt zu militanten Strukturen aufgebaut haben sollen – teils inspiriert durch die Eskalation in Gaza.
Transnationale Geldströme und Einfluss aus dem Ausland
Ein weiterer sicherheitspolitischer Faktor sind Finanzierungsquellen islamistischer Organisationen in Europa. Nach Angaben europäischer Nachrichtendienste erfolgt ein Teil der Finanzierung über Spendenaktionen für Gaza, deren Mittel nachweislich auch an Hamas-nahe Einrichtungen fließen. In einem jüngst geleakten Bericht der EU-Agentur Europol heißt es, dass „islamistische Gruppierungen systematisch humanitäre Hilfsaufrufe missbrauchen, um operative Strukturen in Europa zu stärken“.
Zudem besteht laut BND „ein anhaltender Versuch regionaler Akteure wie Katar oder der Türkei, über islamische Dachverbände Einfluss auf europäische Muslime und lokale Politik zu nehmen“ – ein Spannungsfeld, das auf europäischer Ebene bislang nur zögerlich angegangen wird.
Reaktionen der Staaten: Ein Flickenteppich
Während einige Staaten wie Frankreich, Dänemark und Österreich ihre Deradikalisierungs- und Verbotsstrategien verschärfen, bleibt die europäische Antwort auf den wachsenden Islamismus zersplittert. Ein Vorschlag für eine gemeinsame EU-Strategie zur Prävention religiös motivierter Radikalisierung, der im Mai im Innenausschuss des Europaparlaments diskutiert wurde, scheiterte bislang an politischen Differenzen.
Die EU-Kommission will im Herbst 2025 eine neue Rahmenrichtlinie zur Kontrolle islamistischer NGO-Strukturen vorlegen, stößt jedoch auf Widerstand einiger Mitgliedstaaten, die in der Einschränkung religiöser Organisationen einen möglichen Verstoß gegen die Religionsfreiheit sehen.
Der Gaza-Krieg hat Europas islamistische Szene nicht geschaffen – aber er hat sie reaktiviert und reorganisiert. Die sicherheitspolitische Herausforderung liegt heute weniger in spektakulären Terroranschlägen als in der schleichenden Radikalisierung, der strategischen Vernetzung und der systematischen Unterwanderung offener Gesellschaften.
Ohne ein entschlossenes, koordiniertes Vorgehen droht Europa, den sicherheitspolitischen Boden unter den Füßen zu verlieren – nicht durch Panik, sondern durch politische Lähmung. Denn Islamismus 2025 ist subtiler, digitaler, ideologisch raffinierter – aber nicht weniger gefährlich.