Obwohl sie sich auf den ersten Blick als Gegensätze präsentieren – hier die sunnitische Muslimbruderschaft, dort das schiitische Regime in Teheran – eint beide Bewegungen weit mehr als sie trennt. Inmitten wachsender geopolitischer Spannungen rückt die ideologische Nähe zwischen den beiden islamistischen Akteuren erneut in den Fokus. Trotz theologischer Unterschiede verbindet sie ein autoritärer Herrschaftsanspruch, die Ablehnung westlicher Ordnungsmodelle – und eine gemeinsame Vision von Staat und Gesellschaft, in der Religion als politisches Machtinstrument dient.
Vom „Islamischen Staat“ als politisches Ziel
Die Muslimbruderschaft wurde 1928 in Ägypten von Hassan al-Banna gegründet – mit dem Ziel, den Islam als umfassende gesellschaftliche Ordnung wiederherzustellen. Auch der Iran unter Ayatollah Ruhollah Khomeini formulierte nach der Revolution von 1979 ein ähnliches Projekt: den „velayat-e faqih“, die Herrschaft des islamischen Rechtsgelehrten. Beide Bewegungen lehnen die Trennung von Religion und Staat kategorisch ab und propagieren ein Gottesstaat-Modell, das demokratische Institutionen lediglich als taktisches Vehikel begreift.
In ihrer Ideologie geht es nicht um Partizipation im Sinne pluralistischer Systeme, sondern um die Etablierung eines totalitären Ordnungsrahmens mit religiösem Fundament – inklusive Zensur, Geschlechterapartheid und der Kriminalisierung abweichender Meinungen. Islamismus wird hier nicht als spirituelle Überzeugung, sondern als ideologisches Machtinstrument gedacht.
Feindbild Westen, Feindbild Israel
Beide Bewegungen sehen in den westlichen Demokratien eine moralisch dekadente, islamfeindliche Zivilisation. Ihre Propaganda richtet sich konsequent gegen Liberalismus, Säkularismus und das Modell des individuellen Rechtsstaats. Besonders stark ausgeprägt ist das gemeinsame Feindbild Israel: Während das iranische Regime seit Jahrzehnten mit antisemitischen Parolen und Waffenlieferungen an die Hisbollah gegen den jüdischen Staat vorgeht, betrachtet auch die Muslimbruderschaft – einschließlich ihrer palästinensischen Abspaltung Hamas – den bewaffneten Kampf gegen Israel als religiöse Pflicht.
In der Praxis zeigt sich die ideologische Nähe auch in Form stillschweigender Kooperation: So erhielt die Hamas wiederholt finanzielle, logistische und militärische Unterstützung aus Teheran – trotz der sunnitisch-schiitischen Bruchlinien. Der gemeinsame Nenner bleibt der Kampf gegen westliche Einflüsse und israelische Präsenz im Nahen Osten.
Strategische Doppelzüngigkeit
Sowohl die Muslimbruderschaft als auch das iranische Regime bedienen sich einer Doppelstrategie: Nach außen geben sie sich gemäßigt, dialogbereit und auf Stabilität bedacht – insbesondere gegenüber Europa. Innenpolitisch hingegen propagieren sie autoritäre Ordnungsmodelle, verfolgen Kritiker und errichten Strukturen, die pluralistische Systeme unterminieren sollen.
In Ägypten etwa nutzte die Muslimbruderschaft nach der Revolution 2011 die demokratischen Öffnungen, um mit Mohamed Mursi einen Präsidenten zu stellen. Kaum im Amt, begann seine Regierung, die Verfassung umzuschreiben, die Justiz zu entmachten und oppositionelle Medien einzuschränken. Eine ähnliche Dynamik zeigte sich im Iran 1979, als anfängliche Versprechen von Freiheit schnell in eine theokratische Diktatur übergingen.
Ideologische Kreuzungspunkte
Trotz religiöser Differenzen existieren mehrere ideologische Schnittmengen:
- Islam als allumfassendes Ordnungssystem: Beide Bewegungen begreifen den Islam nicht primär als Glaubensbekenntnis, sondern als vollständige gesellschaftliche Ordnung – politisch, rechtlich und moralisch.
- Missionarischer Absolutheitsanspruch: Ob Sunnit oder Schiit – beide beanspruchen, den „wahren Islam“ zu vertreten und erheben daraus den Anspruch, andere Muslime und ganze Gesellschaften zu „reformieren“.
- Verschwörungsideologien: Die Vorstellung eines permanenten Komplotts gegen den Islam – inszeniert von Zionisten, westlichen Regierungen oder innerislamischen Gegnern – ist zentraler Bestandteil beider Weltbilder.
- Klerikale Herrschaft: Auch wenn die Muslimbruderschaft keine explizite Geistlichenherrschaft nach iranischem Modell fordert, propagiert sie doch die politische Vorherrschaft islamischer Gelehrter oder „frommer Führer“, die religiös legitimiert agieren.
Gemeinsame Destabilisierungswirkung
Die praktische Konsequenz dieser ideologischen Nähe ist die Schwächung staatlicher Institutionen und die Polarisierung pluralistischer Gesellschaften – sei es durch Parallelstrukturen, ideologische Indoktrination oder die Mobilisierung jugendlicher Milieus. In vielen Staaten – von Ägypten über den Libanon bis nach Syrien – destabilisieren muslimbrüdernahe Netzwerke und iranische Stellvertreterakteure die politische Ordnung durch ihre Agenda.
Auch in Europa gibt es Überschneidungen: In Moscheevereinen, Kulturzentren und religiösen Organisationen treten sowohl von Teheran finanzierte als auch brüdernahe Strukturen auf – oft mit ähnlichen Narrativen über Opferstatus, Islamophobie und westliche Doppelmoral.
Fazit: Ideologische Konkurrenten, strategische Komplizen
Die Muslimbruderschaft und das iranische Mullah-Regime stehen sich in ihrer konfessionellen Ausprägung zwar gegenüber – doch ideologisch und politisch verbindet sie ein autoritärer Islamismus, der pluralistische Gesellschaften ablehnt, Gewalt als Mittel der Machterweiterung billigt und religiöse Legitimation zur Errichtung eines politischen Herrschaftsmodells missbraucht. Ihre strategische Nähe ist keine Allianz im klassischen Sinne, sondern eine ideologische Komplizenschaft – gefährlich, flexibel und schwer zu durchbrechen.