Von Karam Dawli
Die Frage der Minderheiten gehört seit langem zu den unausgesprochenen Tabus – entweder wurde sie gewaltsam unterdrückt oder durch eine Form kollektiver Verdrängung ignoriert. Es lässt sich kaum eine einheitliche Haltung benennen, die die Perspektiven von Minderheiten im Hinblick auf das Konzept eines staatsbürgerlich verfassten Nationalstaats repräsentiert. Jede sinnvolle Diskussion muss bei den realen Gegebenheiten ansetzen, nicht bei idealistischen Annahmen. In diesem Zusammenhang erweist sich die menschenrechtliche Dimension der Staatsbürgerschaft als der entscheidende Faktor.
Angesichts der komplexen ethnischen, religiösen und kulturellen Pluralität Syriens ist es dringend erforderlich, internationale Übereinkommen über individuelle und kollektive Rechte in jede zukünftige Verfassungsordnung aufzunehmen. Letztlich ist es die rechtliche und verfassungsmäßige Struktur, die den Grad der nationalen Integration und ihre langfristige Tragfähigkeit innerhalb eines Staates bestimmt.
Einleitung
Das Thema ist zutiefst komplex und emotional aufgeladen – insbesondere in einer Region, die so stark von Konflikten geprägt ist. Seine vielschichtige Natur erschwert ein vollständiges Verständnis, da es untrennbar mit Fragen der Identität und historischer Narrative verknüpft ist. Über Jahrzehnte hinweg wurde die Minderheitenfrage bewusst totgeschwiegen – oft wurde sie (zu Recht oder zu Unrecht) mit Separatismus, Illoyalität oder Rückständigkeit in Verbindung gebracht. So wurde sie zu einem sensiblen Thema, das bis heute weder durch offenen gesellschaftlichen Dialog noch durch wissenschaftliche Forschung oder intellektuelle Auseinandersetzung in Syrien oder der weiteren Region ausreichend aufgearbeitet wurde.
Zentrale Punkte zum Thema der Studie
Der Begriff „Minderheit“ bezieht sich hier auf eine zahlenmäßige Beschreibung bestimmter Gruppen – ethnischer, religiöser oder konfessioneller Art – die durch primäre, bei der Geburt erworbene Identitäten definiert sind. Seine Verwendung zielt nicht darauf ab, ihre Bedeutung, ihren Wert oder ihre historische Präsenz zu schmälern. Alle Nationalitäten, Religionen und Konfessionen in Syrien sind seit der Gründung des modernen syrischen Staates im Jahr 1920 konstitutive Bestandteile der kulturellen, spirituellen, sozialen und wirtschaftlichen Struktur des Landes. Der Begriff „Minderheit“ beschreibt lediglich ihr zahlenmäßiges Verhältnis zur Gesamtbevölkerung. Darüber hinaus hat dieser Begriff durch internationale Rahmenwerke wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und andere Dokumente eine anerkannte rechtliche, politische und soziale Bedeutung erlangt. Während einige Verfassungen Begriffe wie „kleine Nationalitäten“ verwenden, um ethnische Minderheiten zu bezeichnen, bleibt das juristische Konzept weithin anerkannt.
Minderheiten im oben definierten Sinne bilden in Syrien keinen einheitlichen politischen Block. Vielmehr umfassen sie ein breites Spektrum ideologischer Positionen, das oft das gesamte politische Spektrum des Landes widerspiegelt – über die Grenzen von Identität hinaus. Es gibt daher keine einzelne Haltung, die „die Minderheiten“ in Bezug auf Staatsbürgerschaft und Nationalstaat repräsentieren könnte. Die hier dargelegte Position ist lediglich eine politische Vision unter vielen in der komplexen syrischen Landschaft – konkret diejenige der Assyrischen Demokratischen Organisation, deren Prinzipien ich als Mitglied vertrete.
Bei der Entwicklung einer Vision für einen gewünschten staatsbürgerlich verfassten Staat dürfen wir die historischen Erfahrungen der Minderheiten in Syrien nicht außer Acht lassen. Ebenso wenig können wir die gegenwärtigen Identitätskonflikte ignorieren, die sich in Form tiefer gesellschaftlicher Spaltungen, wachsender Angst vor dem „Anderen“ und der Fragilität des nationalen Zusammenhalts manifestieren. Die Minderheitenfrage und die Herausforderung ethnisch-religiöser Vielfalt sind keine neuen Phänomene, sondern tief in der syrischen Geschichte verwurzelt – besonders deutlich in einem Jahrhundert wiederholter Misserfolge bei der Errichtung eines wirklich demokratischen Nationalstaats. Jeder Versuch, sich dieser Thematik zu stellen, muss bei der gegenwärtigen Realität ansetzen – nicht bei einer idealisierten Version davon – als Teil einer verantwortungsvollen Bemühung, Vielfalt auf einem nationalen Weg zu gestalten, der vielleicht eines Tages eine kohärente Identität hervorbringt, die sich mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft versöhnt.
Wenn wir über Gerechtigkeit, Gleichheit, Staatsbürgerschaft, Freiheit und Menschenwürde sprechen, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass ein Individuum aus einer Minderheitengruppe – hier symbolisch als „Minderheitenindividuum“ bezeichnet – sich weder seine ethnische Zugehörigkeit noch seinen Glauben ausgesucht hat. Das Verständnis der Denkweise von Minderheiten, mit ihren Verhaltensmustern, Sorgen und teilweise auch Traumata oder soziopolitischen Pathologien, erfordert eine breitere Kontextualisierung. Diese Muster sind nicht ausschließlich Produkte der Minderheitenerfahrung, sondern entstehen im komplexen Zusammenspiel mit den Haltungen und Verhaltensweisen der Mehrheitsgesellschaft. Die Auseinandersetzung mit der Minderheitenfrage und der ethnisch-religiösen Vielfalt Syriens – als nationale Herausforderung verstanden – ist daher nicht allein Aufgabe der Minderheiten. Es handelt sich um eine gemeinsame nationale Verantwortung, die das Engagement aller Syrerinnen und Syrer erfordert.
Ein Blick auf das Konzept der Staatsbürgerschaft
Im Kern ist Staatsbürgerschaft eine rechtliche und soziale Beziehung – zwischen Individuen innerhalb einer Gesellschaft und zwischen diesen Individuen und der herrschenden Autorität. Doch Staatsbürgerschaft ist kein in sich geschlossenes System aus Prinzipien, Rechten und Werten, das automatisch die Anforderungen an Gerechtigkeit erfüllt – sei es im rechtlichen Sinne, bei politischer und entwicklungsbezogener Teilhabe oder im symbolischen Bereich von Zugehörigkeit und nationaler Identität.
So heißt es etwa in der Verfassung der Syrischen Arabischen Republik, dass alle syrischen Staatsangehörigen Bürger sind. Die Staatsbürgerschaft kann einem syrischen Christen beispielsweise nicht abgesprochen werden. Doch der Grad und die Qualität dieser Staatsbürgerschaft sind der eigentliche Kern des Problems.
Damit sind wir bei einem zentralen Punkt: Die rechtliche und inhaltliche Ausgestaltung der Staatsbürgerschaft ist ihr entscheidendes Element. Ein Bürger oder eine Bürgerin wird nicht über Beruf, Religion, Geschlecht oder ethnische Zugehörigkeit definiert, sondern rechtlich und gesellschaftlich als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft – mit allen Rechten und Pflichten. Eine vollwertige Staatsbürgerschaft erfordert daher absolute Gleichheit – vor dem Gesetz, in den Rechten und in den Pflichten.
Staatsbürgerschaft und Menschenrechte
Die moderne Menschheit hat ein wertebasiertes und rechtliches Rahmenwerk hervorgebracht, das heute weltweit als Maßstab für Freiheit, Gleichheit und grundlegende Rechte gilt. Dementsprechend muss sich der angestrebte syrische Staat in seinem Verständnis von Staatsbürgerschaft – sowohl in ethischer als auch in rechtlicher Hinsicht – an den internationalen Menschenrechtsnormen orientieren.
Angesichts des untrennbaren Zusammenhangs zwischen Staatsbürgerschaft und Menschenrechten ist der Kampf um echte Staatsbürgerschaft zugleich ein Kampf um die Verwirklichung der Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie den darauf aufbauenden zentralen internationalen Abkommen – insbesondere den beiden UN-Pakten von 1966 und der UN-Erklärung von 1992 über die Rechte von Personen, die nationalen oder ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheiten angehören – verankert sind.
Was für individuelle Rechte gilt, muss gleichermaßen für kollektive Rechte gelten. Dieses Prinzip findet sich in verschiedenen internationalen Übereinkommen wieder – insbesondere jenen, die Minderheiten und indigene Völker schützen – und betont die Bedeutung des Schutzes kollektiver Identitäten, gerade in Staaten mit ethnischer, religiöser, kultureller und sprachlicher Vielfalt.
Vor diesem Hintergrund ist die Aufnahme internationaler Übereinkommen über individuelle und kollektive Rechte in eine zukünftige syrische Verfassung ein entscheidender Schritt zur Lösung der tief verwurzelten Pluralismusfrage in Syrien – nicht als symbolische oder oberflächliche Ergänzung, sondern als tragende Säulen des Verfassungsgefüges. Diese Lösung muss demokratisch, inklusiv und gerecht sein – verankert in der Einheit von Syriens Land und Bevölkerung.
Auf Basis dieser Prinzipien – die universellen Charakter haben und im syrischen politischen Diskurs weitgehend Widerhall finden – wird deutlich, dass die hier diskutierten Werte und Rechte das Fundament jedes modernen Nationalstaats bilden müssen, der den Geist der Zeit verkörpern will.
Dies führt uns zu einer zentralen Frage:
Welche Art von Staat – und welche Art von Staatsbürgerschaft – wollen wir aufbauen?
Spiegelt das derzeit in Syrien diskutierte Konzept eines staatsbürgerlich verfassten Staates wirklich das Wesen der Staatsbürgerschaft wider?
Zwar haben sich viele Syrerinnen und Syrer im Laufe des letzten Jahrzehnts im Rahmen politischer Konferenzen und Bündnisse auf zentrale demokratische Grundsätze verständigt, doch bestehen weiterhin erhebliche Differenzen – vor allem in Fragen, bei denen die Vorstellungen vom zukünftigen Staat auseinandergehen. Diese Studie befasst sich nicht mit den bereits erzielten Einigungen, sondern mit den weiterhin strittigen Punkten: nationale Identität, die Debatte um einen zivilen versus säkularen Staat, die Rolle der Religion in der Staatsführung und die Frage, ob Rechte nur individuell oder auch kollektiv gelten sollen.
I. Individuelle und kollektive Rechte / Fragen von Identität und Integration
Der verfassungsrechtliche Rahmen eines Staates bestimmt das Ausmaß und die Realisierbarkeit nationaler Integration. Wenn er auf Gerechtigkeit, Gleichheit, gegenseitigem Respekt und voller Staatsbürgerschaft basiert, kann ein solcher Rahmen wahre Inklusion und gesellschaftlichen Zusammenhalt innerhalb eines modernen politischen Systems gewährleisten. Eine Verfassung, die die Rechte nationaler oder ethnischer Gemeinschaften ausdrücklich anerkennt, zeigt das Engagement eines zeitgemäßen Staates für den Schutz kollektiver kultureller und politischer Rechte von Minderheiten – wie in internationalen Menschenrechtskonventionen verankert. Eine solche Anerkennung steht nicht im Widerspruch zum Prinzip der Gleichheit aller Bürger, sondern stellt dessen natürliche Ergänzung dar. Sie ist auch ein entscheidender Schutzmechanismus gegen gesellschaftliche Fragmentierung im zukünftigen Syrien.
In einer pluralistischen Gesellschaft – ethnisch, religiös und kulturell vielfältig – darf sich der Staat keiner einzelnen ethnischen oder religiösen Gruppe zugehörig fühlen. Er muss exklusivistische Politiken, die Durchsetzung einer einzigen Identität oder die Marginalisierung von Minderheiten kategorisch ablehnen. Stattdessen muss er die gleichberechtigte politische Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger sichern, wobei sie ihre kulturellen, ethnischen oder religiösen Identitäten ohne Angst vor Repression oder Ausgrenzung bewahren können.
Um Syrien als endgültige und gemeinsame Heimat aller Menschen zu bewahren, muss der nationale Zusammenhalt aktiv wiederhergestellt werden. Dazu gehört die Erneuerung des geschwächten Bewusstseins nationaler Einheit sowie der Aufbau einer modernen nationalen Identität, die die Vielfalt des Landes widerspiegelt. Eine solche Identität muss über sektiererische, ethnische oder regionale Gräben hinausreichen und die Vielfalt des Landes als Quelle der Stärke und nicht als Ursache der Spaltung begreifen.
Dies erfordert eine gemeinsame Absage an Extremismus, Fanatismus und Überlegenheitsideologien – ob ethnischer oder religiöser Natur – sowie die Förderung einer zivilen Kultur, die auf Staatsbürgerschaft, Mäßigung, Toleranz und Dialog beruht. Dialog muss zur primären Form der Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen sozialen, politischen und intellektuellen Strömungen Syriens werden. Auch politische Kräfte – ob nationalistisch oder religiös geprägt – müssen eine pragmatischere Haltung einnehmen und sich von idealistischen oder nostalgischen Projekten verabschieden, die Syrien auf eine Provinz eines mythischen Imperiums reduzieren wollen. Stattdessen sollten sie sich dem Aufbau eines modernen, demokratischen Staates widmen, der Wohlstand, Stabilität und echte Teilhabe garantiert und konstruktiv in der Region wie in der Weltgemeinschaft agieren kann.
Die bloße Behauptung, es gebe ein einheitliches syrisches Volk und eine gefestigte nationale Identität, läuft Gefahr, zur elitär-abgehobenen Wunschvorstellung zu verkommen. Eine solche Rhetorik verkennt den schwierigen historischen Werdegang der syrischen Identität. Die heutige Realität zeigt vielmehr, dass es weder strukturell noch kulturell die nötigen Voraussetzungen für die Herausbildung einer neuen, integrativen nationalen Identität gibt. So berechtigt das Streben nach einer solchen Identität auch ist – sie darf nicht als Deckmantel für die fortgesetzte Vorherrschaft einer Gruppe über das öffentliche Leben dienen, verpackt in die Sprache der Einheit.
Wahre nationale Versöhnung kann nur mit einer verfassungsmäßigen Anerkennung Syriens als multiethnischen und multireligiösen Staat beginnen. Das bedeutet: formelle Anerkennung der nationalen, kulturellen und sprachlichen Rechte aller Bevölkerungsgruppen und deren Sichtbarkeit in den staatlichen Symbolen – im Namen des Staates, in Flagge, Institutionen, Medien, Bildungssystem und Sprachpolitik. Eine syrische Identität, die mit ihrem historischen und kulturellen Erbe versöhnt ist, muss sich von ideologischer Verzerrung befreien – und alle zivilisatorischen Beiträge ehren, die den Weg des Landes mitgeprägt haben.
Dazu gehört auch eine verfassungsmäßige Definition des syrischen Volkes, die seiner ethnischen Zusammensetzung Rechnung trägt und diesen Gemeinschaften nicht nur kulturelle Rechte, sondern auch eine Rolle bei der Mitgestaltung nationaler Entscheidungen zusichert – ohne sich dabei auf ein Quotensystem zu stützen. Erforderlich sind kreative gesetzgeberische und administrative Mechanismen. Ein solcher Mechanismus könnte ein Zweikammersystem im Parlament sein, wobei die zweite Kammer die Minderheitengruppen repräsentiert. Verfassungsänderungen, die die Rechte und Freiheiten von Minderheiten betreffen, müssten in diesem Modell mit einer Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern verabschiedet werden, sodass Minderheiten eine zentrale Rolle in der nationalen Gesetzgebung spielen.
Auf Exekutivebene muss Syrien sich mit modernen Regierungsmodellen auseinandersetzen – allen voran dem Föderalismus. Ein föderales System bietet einen Ausweg aus dem starren Zentralismus, der jahrzehntelang Autoritarismus gefördert und das öffentliche Leben monopolisiert hat. Es würde eine gerechte Machtverteilung, eine faire Ressourcennutzung, stärkere demokratische Teilhabe und eine ausgewogene regionale Entwicklung ermöglichen. Entscheidend ist, dass ein Übergang zu einem solchen System in einem stabilen Umfeld erfolgt und sicherstellt, dass alle Syrerinnen und Syrer ihren Willen und ihre Bestrebungen frei äußern können.
II. Das angestrebte politische System: Zwischen Zivilstaat und Säkularismus
Im heutigen syrischen politischen Diskurs haben sich die meisten Oppositionskräfte und aktiven Bewegungen den Begriff „Zivilstaat“ zu eigen gemacht – als eine Art, das Konzept des Säkularismus zu umgehen oder abzuschwächen, um bestimmten islamischen Strömungen entgegenzukommen. Einige dieser Gruppen setzen Säkularismus mit Atheismus oder Unglauben gleich. Gleichzeitig ist es diesen Kräften weitgehend nicht gelungen, klar zu definieren, was ein Zivilstaat überhaupt bedeutet. Insbesondere islamisch geprägte politische Akteure liefern vage oder widersprüchliche Deutungen. Einige berufen sich auf die Regierungsführung des Propheten in Medina als historisches Vorbild. Andere definieren den Zivilstaat schlicht als einen Staat, der nicht von Klerikern oder Militärs regiert wird. Wieder andere verstehen darunter einen Staat, der alle göttlichen Religionen respektiert, in dem Nicht-Muslime aber nicht gezwungen sind, den religiösen Gesetzen der Mehrheit zu folgen. Eine weitere Definition sieht im Zivilstaat einen Staat für alle Bürger – lehnt jedoch Führungsrollen für Nicht-Muslime über Muslime oder für Frauen über Männer ab.
Diese widersprüchlichen Auffassungen haben nur zur weiteren Unklarheit rund um den Begriff „Zivilstaat“ beigetragen – insbesondere aus der Perspektive religiöser Minderheiten, von denen viele diese Unschärfe als Ausdruck rechtlicher und gesellschaftlicher Ungleichheit empfinden. Wenn ein politisches System keine gleichen Rechte über religiöse und geschlechtliche Grenzen hinweg garantiert, untergräbt es das Prinzip der Staatsbürgerschaft und gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Eine klare Vision des modernen zivil-demokratischen Staates
Unser Verständnis eines modernen zivil-demokratischen Staates beginnt bei seiner Souveränität und Unabhängigkeit. Es handelt sich um einen Verfassungsstaat, der auf einem einvernehmlich erarbeiteten, säkularen rechtlichen Fundament ruht – gemeinsam gestaltet von allen nationalen und politischen Kräften. Ein solcher Staat steht über ethnischen, religiösen und konfessionellen Zugehörigkeiten und gehört allen seinen Bürgerinnen und Bürgern gleichermaßen – unabhängig von ihrer Herkunft. Er ist kein Instrument einer bestimmten Religion, Konfession, Ethnie, Ideologie oder Partei.
Ein solcher Staat respektiert alle religiösen Überzeugungen, ohne ihnen politische Privilegien einzuräumen. Er gründet auf Gleichheit in Rechten und Pflichten, auf voller und gleichberechtigter Staatsbürgerschaft sowie auf der Trennung von Religion, Politik und Staat. Die Souveränität liegt beim Volk, das Gesetz steht über allem, und demokratische Herrschaft wird durch den friedlichen Machtwechsel via freie und faire Wahlen verwirklicht.
In diesem Verständnis stehen sich die Begriffe Zivilstaat und Säkularismus nicht entgegen – im Gegenteil: Sie ergänzen sich auf tiefgreifende Weise. Die Ersetzung des Begriffs „Säkularismus“ durch das scheinbar neutralere „Zivilität“ verschleiert lediglich die klaren Verpflichtungen, die eine säkulare Staatsordnung mit sich bringt. Es besteht die Gefahr, dass damit Versuche kaschiert werden, religiöse oder ideologische Vorherrschaft unter einem gemäßigteren Begriff aufrechtzuerhalten.
Wir vertreten die Auffassung, dass Säkularismus und Demokratie untrennbar miteinander verbunden sind – das eine kann ohne das andere nicht gedeihen. Ein säkular-demokratisches System garantiert umfassende Freiheiten für alle Glaubensrichtungen, verhindert religiöse Diskriminierung, schützt Minderheiten und Frauen und bewahrt das öffentliche Leben vor der Instrumentalisierung von Religion durch politische oder herrschende Kräfte. Wir verstehen Säkularismus nicht als Glaubenssystem oder Ideologie. Er richtet sich nicht gegen Religion, noch stellt er ihre Heiligkeit in Frage. Vielmehr zielt er darauf ab, einen respektvollen und neutralen Raum zwischen Religion und Staat zu schaffen.
Säkularismus stellt sicher, dass der Staat allen Religionen gegenüber gleiche Distanz wahrt und gleichzeitig das Recht jedes Einzelnen schützt, seinen Glauben, seine Rituale und Überzeugungen frei auszuüben – ohne staatlichen oder gesellschaftlichen Zwang. Er ist keine atheistische Philosophie, sondern ein Set von Prinzipien und Schutzmechanismen, die Gewissensfreiheit, Glaubensfreiheit und Meinungsfreiheit sichern.
Wichtig ist: Säkularismus bietet kein einheitliches rechtliches Modell für alle. Er passt sich an die jeweilige Kultur, Identität und historische Erfahrung einer Gesellschaft an. Seine erfolgreiche Umsetzung in so unterschiedlichen Ländern wie westlichen Demokratien, Indien, Japan, Malaysia oder der Türkei zeigt seine Flexibilität und universelle Anwendbarkeit. Diese Länder repräsentieren eine Vielzahl religiöser Traditionen – und dennoch haben sie allesamt von der Trennung von Religion und politischer Macht profitiert.
Ungeachtet seines westlichen Ursprungs hat sich der Säkularismus zu einem universellen Wert entwickelt – jenseits von Kontinenten, Ethnien und Bekenntnissen. Seine bewährte Wirksamkeit bei der Sicherung von Freiheiten und dem Ermöglichen friedlichen Zusammenlebens macht ihn zu einem hochrelevanten Konzept für alle Kontexte, in denen Freiheit, Pluralismus und das Gemeinwohl im Mittelpunkt stehen.