Nicht einmal eine Stunde lang dauerte der neue Prozessauftakt gegen den bekannten Politiker und Bürgermeister Istanbuls, dann vertagte der Richter die weitere Verhandlung auf den 16. Juni. „Ich bin hier, weil ich die Wahlen in Istanbul dreimal gewonnen habe“, sagte İmamoğlu türkischen Medien zufolge. Das Verfahren fand in einem Gerichtssaal des Silivri-Gefängnisses statt, wo der seines Amtes enthobene Bürgermeister von Istanbul seit drei Wochen inhaftiert ist. Der Prozess war erst vor wenigen Tagen von einem Gerichtsgebäude in Istanbul dorthin verlegt worden. Dennoch war die Zuschauertribüne voll, wie auf Bildern aus dem Saal zu sehen ist. Übertragen wurde die Anhörung nicht.
Silivri gilt als das größte Gefängnis Europas. Dort sind besonders viele Kritiker des türkischen Staatschefs inhaftiert. Der Saal, in dem nun İmamoğlus Verfahren stattfand, ist schon aus dem sogenannten Ergenekon-Prozess bekannt. 2013 wurden dort mehr als 250 Militärangehörige zu hohen Haftstrafen verurteilt. Sie sollen versucht haben, Erdoğan zu stürzen. Später hob der Oberste Gerichtshof die Verurteilungen wegen mangelnder Beweise auf. Das verleitet einige schon zu Optimismus auch im Fall İmamoğlus. Der stellvertretende Vorsitzende der CHP-Fraktion, Gökhan Günaydın, sagte etwa: „Ich erinnere mich an diesen Saal von den Ergenekon-Prozessen. Der Anfang des Films ist der gleiche, und das Ende wird das gleiche sein.“
„Ich bin immer jemand, der versöhnt“, sagte İmamoğlu weiter. Er erinnerte auch an die Hunderten Studenten, die in den vergangenen Wochen bei den Massenprotesten gegen die Regierung festgenommen wurden. Diese waren durch seine Verhaftung wegen angeblicher Korruption und Terrorunterstützung am 19. März ausgelöst worden. Damit hat der jetzige Prozess jedoch nichts zu tun. İmamoğlu wird vorgeworfen, den Generalstaatsanwalt von Istanbul, Akın Gürlek, und dessen Familie in einer Rede bedroht zu haben. İmamoğlu drohen dafür eine Freiheitsstrafe von bis zu sieben Jahren und vier Monaten, der Ausschluss von öffentlichen Ämtern und der Entzug des Wahlrechts. In einer weiteren ebenfalls für Freitag angesetzten Verhandlung sollte es zudem um manipulierte Ausschreibungen aus seiner Zeit als Bürgermeister von Beylikdüzü, einem Istanbuler Vorort, gehen. İmamoğlu wird vorgeworfen, dabei Freunde und Verwandte begünstigt zu haben.
Der 53 Jahre alte Politiker bestreitet beide Vorwürfe. Im Fall Gürlek habe er nur eine unparteiische Gesetzgebung „für die Kinder und die Zukunft aller Menschen“ in der Türkei gefordert. İmamoğlu hatte die Ermittlungen des Generalstaatsanwalts gegen den Vorsitzenden der CHP-Jugend, Cem Aydın, und dessen mutmaßliche Verhaftung kritisiert. In der Rede, die ihm zur Last gelegt wird, sagte er an Gürlek gerichtet: „Wir werden die Denkweise, die dich leitet, aus dem Kopf dieses Volkes entfernen, damit deine Kinder solche Dinge nicht mehr erleben müssen. (. . .) Wir werden auch deine Art zu denken beenden, damit sogar in deinem Zuhause wieder Frieden einkehrt.“ Gürlek war bis Oktober stellvertretender Justizminister und davor viele Jahre Richter. Schon aus dieser Zeit ist er für sein hartes Vorgehen gegen Oppositionelle bekannt. Kurz nach seiner Ernennung zum Generalstaatsanwalt wurde Ende Oktober ein Istanbuler Bezirksbürgermeister wegen angeblicher Verbindung zur PKK festgenommen. Kurz darauf nannte ihn der CHP-Vorsitzende Özgür Özel „eine mobile Guillotine, (. . .) die der Justiz den Kopf abhackt“. Im Januar wurde dann ein weiterer Istanbuler Bezirksbürgermeister der CHP verhaftet. Es folgten Festnahmen prominenter Aktivisten und Journalisten, bis es schließlich İmamoğlu traf.
Dessen Verhaftung gilt als politisch motiviert, soll er doch für seine Partei bei der nächsten Präsidentenwahl antreten. Dem beliebten Politiker, der seit 2019 in Istanbul regierte, wurden gute Chancen auf einen Sieg vorausgesagt. Schon bei den Präsidentenwahlen vor zwei Jahren hätte er der Herausforderer des türkischen Langzeitherrschers Recep Tayyip Erdoğan sein sollen. Dann verurteilte ihn im Dezember 2022 ein Gericht zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten. Außerdem erhielt İmamoğlu ein Politikverbot, weil er Mitglieder des Hohen Wahlrats „Dummköpfe“ genannt haben soll. Das Urteil ist wegen des laufenden Berufungsverfahrens noch nicht rechtskräftig. Bei den Kommunalwahlen im vergangen Jahr wurde er als Bürgermeister nicht nur wiedergewählt, die CHP lag auch landesweit vor Erdogans AKP.
Aufgrund der Feiertage rund um das Zuckerfest war die Protestwelle in der Türkei zuletzt abgeebbt. Zuvor waren Sicherheitskräfte mit Wasserwerfern gegen Demonstranten vorgegangen und nahmen fast 2000 Menschen fest. Beinahe 300 Studenten wurden in Untersuchungshaft genommen. In dieser Woche wurde gut die Hälfte von ihnen freigelassen. Zuvor hatte die Generalstaatsanwaltschaft Istanbul bekannt gegeben, dass in zwanzig getrennten Ermittlungsverfahren gegen 819 Personen Klagen erhoben wurden. Ihnen werde Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen vorgeworfen, teilte die Behörde mit. Das scheint die meist jungen Demonstranten nicht abzuhalten. Wie in jeder Woche seit der Verhaftung versammeln sich Tausende Studenten, um für İmamoğlus Freilassung und gegen Erdoğan zu protestieren.
Gleichzeitig attackiert Erdoğan die größte Oppositionspartei scharf. „Die CHP ist die Verkörperung des Faschismus in Fleisch und Blut“, sagte er vor seiner Partei. Zudem geht der Präsident gegen Özel vor. Dieser hatte Erdoğan auf einem Parteitag am Sonntag als „Juntachef“ bezeichnet. İmamoğlus Verhaftung sei ein „Putsch von oben“. Erdoğans Anwalt erstattete daraufhin Anzeige wegen Präsidentenbeleidigung. Außerdem soll Özel knapp 12.000 Euro Wiedergutmachung zahlen.