Zum ersten Mal wurde der Vorfall vor über einem Monat öffentlich bekannt: Mehrere saudische Zeitungen berichteten übereinstimmend von der Verhaftung von fünf Männern in einem Massagesalon in Dschidda – einer Küstenstadt am Roten Meer und wirtschaftlichen Metropole des Landes. Die genauen Umstände der Festnahme blieben zunächst vage, doch schnell wurde klar, dass es sich nicht um einen Einzelfall handelte. Wenige Tage später folgten Berichte über die Festnahme von drei Frauen, diesmal in einer anderen Region des Königreichs. Die Vorwürfe? Offenbar sollen sie in Aktivitäten verwickelt gewesen sein, die mit organisierter Ausbeutung oder Menschenhandel in Verbindung stehen.
Kurz darauf weitete sich die Aktion auf die Hauptstadt Riad aus. Dort wurden Kinder aufgegriffen, die bettelnd in den Straßen unterwegs waren – in Begleitung von Erwachsenen, die laut den Ermittlungen möglicherweise Teil eines kriminellen Netzwerks sein könnten, das sich auf die Ausnutzung besonders schutzloser Personen spezialisiert hat. Was zunächst wie eine Serie unzusammenhängender Vorfälle wirkte, wurde bald als landesweite Razzia erkennbar.
Nach Recherchen der Financial Times sollen mittlerweile rund 50 Männer und Frauen im gesamten Königreich verhaftet worden sein – bei koordinierten Einsätzen, die offenbar von einer neu gegründeten Spezialeinheit des Innenministeriums durchgeführt wurden. Die Einheit trägt den formellen und wenig einprägsamen Namen Generaldirektion für die Sicherheit der Gemeinschaft und die Bekämpfung von Menschenhandelsdelikten.
Diese Polizeieinheit wurde eigens geschaffen, um gegen Formen moderner Sklaverei, Zwangsarbeit, sexuelle Ausbeutung sowie die kommerzielle Ausnutzung von Kindern und anderen besonders verletzlichen Gruppen vorzugehen. Ihre Gründung ist Teil der Bestrebungen des saudischen Staates, sein internationales Image zu verbessern – insbesondere angesichts der regelmäßigen Kritik westlicher Staaten und Menschenrechtsorganisationen an den Menschenrechtsstandards des Landes.
Mit den jüngsten Verhaftungen demonstriert die saudische Führung, dass sie das Thema ernst nimmt – zumindest offiziell. Beobachter werten die Einsätze jedoch auch als Teil einer PR-Strategie, mit der das Königreich zeigen will, dass es im Einklang mit internationalen Konventionen agiert. Fraglich bleibt dabei, ob die Maßnahmen tatsächlich strukturelle Veränderungen im Umgang mit Arbeitsmigranten, Frauen und Kindern nach sich ziehen – oder ob es sich lediglich um punktuelle, öffentlichkeitswirksame Aktionen handelt.
Diese Polizeieinheit wurde vor Kurzem ins Leben gerufen, um, so das Ministerium, Straftaten zu verfolgen, „die die Persönlichkeitsrechte verletzen, die durch die Scharia und das Gesetz garantierten Grundfreiheiten beeinträchtigen oder die Würde des Einzelnen in irgendeiner Weise verletzen“. Letztlich scheint die Sondereinheit bislang vor allem gegen Prostitution und Bettelei vorzugehen, die es in Saudi-Arabien bisher offiziell nicht gab.
Das Land war früher streng abgeschottet, bis Kronprinz und De-facto-Herrscher Mohammed bin Salman das Land zu öffnen begann: Frauen dürfen mittlerweile Auto fahren, sie dürfen ins Kino gehen und zu Sportveranstaltungen, wo sie auch auf Männer treffen. Ladenbesitzer müssen nicht mehr fünfmal am Tag ihre Geschäfte zum Gebet schließen.
Früher wachten die Sittenwächter des Ausschusses für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters, kurz Mutawa, über die Verschleierung und das öffentliche Auftreten der Frauen. Es kam zu willkürlichen Verhaftungen und Drangsalierungen. Der Kronprinz schaffte die Sittenwächter in den vergangenen zehn Jahren faktisch ab, verbannte die Verbliebenen zum Schreibtischdienst. Die wichtigste Behörde sei seitdem die General Entertainment Authority, witzelten viele Saudis, die Konzerte organisiert und das Land in eine Art Freizeitpark umgestaltet.
Es ist ein Bild, das Mohammed bin Salman gefällt. Der Kronprinz wird von der saudischen Jugend verehrt, er hat seinem Land die Fußball-WM 2034 verschafft. Saudi-Arabien bleibt aber ein in großen Teilen erzkonservatives Land, das um seinen Ruf in der islamischen Welt fürchtet, als Hüter der heiligen Stätten.
Früher war das Land schwer zugänglich, heute bekommt man am Flughafen ein „Visa on Arrival“. Doch nicht alle Gäste sind offenbar gerne gesehen. „Wenn solche unmoralischen und illegalen Praktiken früher im Verborgenen ausgeübt wurden, sollten diejenigen, die sie heute praktizieren, niemals das Gefühl haben, dass sie ohne Konsequenzen in der Öffentlichkeit auftreten können“, schrieb der Kolumnist Khalid al-Sulaiman in der regierungsnahen Tageszeitung Okaz. Gemeint sind vor allem Sexarbeiterinnen, die ihre Dienste in Saudi-Arabien zuletzt recht offen annoncierten, so wie in anderen Golfstaaten auch.
Menschenrechtsgruppen glauben aber, dass die nun beginnende Strafverfolgung schließlich auch zu Willkür führen könnte, die sich dann womöglich gar nicht mehr so sehr von der früheren Moralpolizei unterscheide. „Der richtige Weg, um Menschenhandel oder Sexarbeit zu überwachen, sind klar definierte Gesetze, die das Verhalten eng eingrenzen. Und nicht vage Vorschriften über ‚Moral‘ und ‚Würde‘, die willkürlichen Verhaftungen und Verfolgungen Tür und Tor öffnen“, sagte Sarah Leah Whitson von Democracy for the Arab World Now (Dawn) dem Nachrichtenportal Middle East Eye.
Letztlich gehen Öffnung und Repression in Saudi-Arabien schon seit Jahren auffällig eng miteinander einher – fast wie zwei Seiten derselben Medaille. Auf der einen Seite präsentiert sich das Königreich unter Kronprinz Mohammed bin Salman als moderner, reformorientierter Staat, der sich wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell neu erfindet. Die ambitionierte Vision 2030 sieht vor, die Abhängigkeit vom Öl zu reduzieren, den Tourismus auszubauen, Frauen mehr Rechte einzuräumen und das öffentliche Leben zu liberalisieren. Konzerte internationaler Stars, Filmvorführungen, ein wiederbelebter Tourismussektor und das Ende des Fahrverbots für Frauen sind allesamt Maßnahmen, mit denen sich das Land der Weltöffentlichkeit als weltoffen und zukunftsgewandt zeigen will.
Doch parallel dazu verschärft sich die Repressionspolitik im Inneren spürbar. Menschenrechtsorganisationen berichten von einer wachsenden Zahl politisch motivierter Festnahmen, drastischen Urteilen gegen Regierungskritikerinnen und Aktivisten sowie einem Justizsystem, das wenig Transparenz kennt. Besonders auffällig ist die Zunahme von Hinrichtungen. 2022 und 2023 wurden mehr Todesurteile vollstreckt als in den Jahren zuvor – viele davon wegen vermeintlicher Terrorvergehen oder „staatsfeindlicher Aktivitäten“, wobei diese Begriffe in Saudi-Arabien weit und vage ausgelegt werden können.
Diese widersprüchliche Politik zeigte sich auch Anfang März zu Beginn des Fastenmonats Ramadan: Abdulaziz al-Howairini, der Chef der saudi-arabischen Staatssicherheit, wandte sich in einer bemerkenswerten Geste an im Ausland lebende Oppositionelle. In einer Rede rief er sie dazu auf, ins Land zurückzukehren. Der Ton war offiziell versöhnlich, beinahe väterlich. Wer nicht tatsächlich eine Straftat begangen habe, sondern „nur mit dem Gedanken gespielt“ habe, dem könne geholfen werden, so al-Howairini. Der Staat werde sich des Problems „annehmen und es beheben“, lautete seine Formulierung.
Um diesen Appell zu unterstreichen, wurde sogar eine eigene Rückkehr-Hotline eingerichtet – eine Telefonnummer, unter der sich Exil-Saudis melden können, wenn sie bereit sind, zurückzukehren. Die Botschaft scheint klar: Wer bereut oder sich fügt, hat eine Chance auf Vergebung. Doch wie glaubwürdig ist solch ein Angebot in einem Land, in dem prominente Menschenrechtlerinnen wie Loujain al-Hathloul oder Salman al-Odah für friedliche Meinungsäußerungen jahrelang inhaftiert wurden – teilweise unter Folter und Isolationshaft?
Kritiker befürchten, dass die Initiative vor allem ein Mittel zur Überwachung und Einschüchterung der Diaspora ist – nicht ein ernst gemeintes Versöhnungsangebot. Die Rückholaktion wirkt wie eine weitere Maßnahme innerhalb einer Strategie, mit der Saudi-Arabien gleichzeitig Öffnung inszeniert und kritische Stimmen zum Schweigen bringt. Wer sich anpasst, wird umarmt. Wer widerspricht, muss mit der vollen Härte des Systems rechnen.
Die saudische Doppelstrategie – Modernisierung nach außen, autoritäre Kontrolle nach innen – hat Methode. Sie ist keine vorübergehende Widersprüchlichkeit, sondern fester Bestandteil des politischen Kalküls der aktuellen Führung. Und sie stellt die internationale Gemeinschaft vor ein Dilemma: Wie geht man mit einem Partner um, der sich liberal gibt, aber nach innen immer autoritärer wird?