Mit ungewohnt klaren Worten hat Bundesbildungsminister Cem Özdemir (Grüne) vor einem verharmlosenden Umgang mit islamistischem Extremismus gewarnt. Bei der Vorstellung der Ergebnisse eines vom Bundesbildungsministerium geförderten Forschungsnetzwerks zu Islamismus sagte er, Politik und Öffentlichkeit begegneten der Bedrohung durch Islamisten oft mit „unerträglicher Naivität“. Das Netzwerk war über fünf Jahre mit insgesamt 15 Millionen Euro unterstützt worden.
Islamisten verachteten die demokratische Grundordnung und die westliche Lebensweise, betonte Özdemir. Die Gefahr gehe dabei nicht nur von einzelnen Gewalttätern aus: „Islamistischer Extremismus bedroht auch Muslime selbst, weil sie durch das Handeln einiger unter Generalverdacht geraten.“ Wer Muslime pauschal verurteile, spiele letztlich den Fundamentalisten in die Hände. Notwendig sei eine klare Unterscheidung zwischen friedlichem Glauben und extremistischer Ideologie.
Kritik übte Özdemir auch am unreflektierten Erdoğan-Kult in Teilen der türkischstämmigen Community in Deutschland. Zwar sei es nicht verboten, Anhänger des türkischen Präsidenten zu sein, sagte er. „Aber man muss sich doch fragen, warum die Liebe zu ihm nicht so weit reicht, dass man dann auch in seinem Land leben will.“
Besorgt zeigte sich der Minister über die wachsende Anziehungskraft islamistischer Gruppen auf Jugendliche. Immer häufiger seien es junge Menschen, die sich radikalisierten. „Das bereitet mir große Sorgen“, so Özdemir.
Das vom Bundesbildungsministerium geförderte Forschungsnetzwerk zu Islamismus in Deutschland untersucht seit 2020 in insgesamt zwölf Teilprojekten die Ursachen, Erscheinungsformen und gesellschaftlichen Auswirkungen islamistischer Radikalisierung. Im Mittelpunkt stehen dabei sowohl individuelle Radikalisierungsverläufe als auch die Strategien islamistischer Akteure, mit denen sie gezielt Einfluss auf Jugendliche, Gemeinschaften und öffentliche Diskurse nehmen. Auch die Rolle von Ideologien, sozialen Milieus, Moscheevereinen, Schulen und Gefängnissen wird analysiert.
Ziel des Netzwerks ist es, wissenschaftlich fundiertes Wissen bereitzustellen, um Präventionsarbeit, politische Maßnahmen und gesellschaftliche Debatten auf eine verlässliche Grundlage zu stellen. Die bisherigen Ergebnisse fließen unter anderem in Bildungsangebote, Präventionsprogramme und Sicherheitskonzepte ein.
Für die kommenden fünf Jahre hat das Ministerium eine neue Förderlinie mit einem weiteren Budget von 15 Millionen Euro aufgelegt. Im Fokus steht nun vor allem die Frage, wie sich islamistische Radikalisierung im digitalen Raum vollzieht – etwa über soziale Netzwerke, Messenger-Dienste oder Online-Plattformen – und welche Dynamiken dabei in Deutschland, Europa und im transnationalen Raum wirksam sind. Untersucht werden soll auch, mit welchen politischen, pädagogischen und technischen Mitteln der digitalen Radikalisierung wirksam begegnet werden kann.
Bei der Vorstellung der Ergebnisse wurde unterstrichen, der Überfall der Hamas auf Israel habe international zu einer „Riesenmobilisierung“ für Islamisten geführt. Man sprach von einer „islamistischen Terrorwelle“ und einer enormen Zunahme von islamistischen Anschlägen auch und gerade in Deutschland. Ein Extremismusforscher, der am ergänzend geförderten Transfervorhaben RADIS beteiligt ist, sagte: „Wir sehen häufig eine Vermischung von Fragen der Sicherheit, Integration und Prävention in gesellschaftlichen Debatten.“ Das Forschungsnetzwerk versuche, solchen komplexen Zusammenhängen gerecht zu werden. Die Forscher empfehlen in einem Sammelband mit den Ergebnissen der ersten Förderlinie eine Vernetzung von Wissensbeständen über die Disziplinen hinweg sowie zwischen Wissenschaft und Fachpraxis. Staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure müssten zusammenarbeiten. Pauschale Vorurteile, Diskriminierung, Ausgrenzung und traumatisierende Fluchterfahrungen seien eng mit Radikalisierung verbunden.
Um Radikalisierung wirksam vorzubeugen, müsse Prävention dort ansetzen, wo Menschen im Alltag zusammenkommen – in Schulen, Jugendzentren, Betrieben, Universitäten und zunehmend auch in sozialen Netzwerken. Zu diesem Schluss kommt das vom Bundesbildungsministerium geförderte Forschungsnetzwerk zu Islamismus. In seinem Bericht betont das Netzwerk die Bedeutung sogenannter aufsuchender Prävention und sozialpädagogischer Arbeit, die Jugendliche und junge Erwachsene unmittelbar in ihrem Lebensumfeld erreicht. Angebote wie Demokratie- und Toleranztrainings müssten deutlich ausgeweitet werden, um sowohl Radikalisierung zu verhindern als auch Stigmatisierung zu vermeiden.
„Immer mehr junge Menschen wachsen in demokratiedistanzierten oder sogar extremistischen Milieus auf“, warnen die Forscher. Deshalb sei es zentral, lokal gut vernetzte sowie digital erreichbare Präventionsangebote zu schaffen. Schulen, Jugendhilfeeinrichtungen und Vereine spielten dabei eine Schlüsselrolle – als Orte der Begegnung, aber auch als Frühwarnsysteme und Vermittlungsinstanzen.
Als Fundament wirksamer Präventionsarbeit nennen die beteiligten Wissenschaftler eine breite politische und soziale Bildung. Neben schulischen Inhalten – etwa in Form überarbeiteter Schulbuchtexte und Unterrichtsmaterialien – komme dem interreligiösen Dialog eine wichtige Rolle zu. Ebenso bedeutsam sei ein lebendiger innermuslimischer Diskurs, der die Vielfalt islamischer Identitäten und Glaubensrichtungen sichtbar mache und radikalen Auslegungen entgegenwirke.
Pädagogische Fachkräfte in Schulen, Jugendarbeit und Sozialdiensten müssten gezielt auf die Herausforderungen vorbereitet werden, die mit religiöser Radikalisierung einhergehen. Es brauche Fortbildungsangebote, die Strategien vermitteln, um junge Menschen in ihrer Lebensrealität abzuholen, sie für demokratische Werte zu gewinnen und ihnen Räume für gesellschaftliches Engagement zu eröffnen. Migrantische und muslimische Selbstorganisation sei hier ausdrücklich Teil der Lösung – entsprechende Strukturen müssten gestärkt, nicht geschwächt werden.
Die Autoren des Berichts fordern, Themen wie interkulturelle Kompetenz, Antidiskriminierung und vertrauensvolle Beziehungsarbeit fest in die Aus- und Weiterbildung pädagogischer und sozialer Berufe zu integrieren. Lehrkräfte und Sozialarbeiter müssten Sicherheit im Umgang mit religiösen Konflikten gewinnen und in der Lage sein, erste Anzeichen von Radikalisierung frühzeitig zu erkennen. Beratungs- und Unterstützungsangebote für das pädagogische Personal sollten daher weiter ausgebaut werden.