Vielleicht waren es nur ein paar Hundert, vielleicht ein paar Tausend. Doch ihr Ruf war unmissverständlich: „Barra, barra“ – „Raus, raus“, skandierten sie auf den Straßen des Gazastreifens. Gemeint war die Hamas, die seit 2007 mit harter Hand über das Gebiet herrscht. Inmitten von Ruinen, Hunger und Hoffnungslosigkeit haben sich in den vergangenen Wochen immer wieder Palästinenser versammelt, um ihrer Wut über die eigene Regierung Ausdruck zu verleihen – ein seltener, gefährlicher Akt des Widerstands.
Ein Arzt, der an einem der Proteste teilnahm, bringt es auf den Punkt: „Ich habe demonstriert, weil ich will, dass die Hamas von der Macht zurücktritt – damit wir endlich mit dem Wiederaufbau beginnen können.“ Mehr will er nicht über sich sagen. Denn gegen die Hamas zu sein, kann lebensgefährlich werden. Mindestens ein Demonstrant wurde offenbar von der Terrororganisation später getötet, andere berichten von Einschüchterung und Drohungen.
Zorn und Angst – ein Klima des Schweigens
Wie groß der Unmut gegen die Hamas tatsächlich ist, lässt sich kaum verlässlich beziffern. Viele Menschen in Gaza sind traumatisiert vom monatelangen Krieg, von Vertreibung, Hunger und Tod. Ihr Alltag besteht aus Überleben. Doch was auf den Straßen sichtbar wird, zeigt eine Entwicklung, die auch von israelischen Medien zunehmend beachtet wird – im Gegensatz zu den zahlreichen zivilen Opfern der israelischen Militäroffensive.
„Die Hamas hat den Rückhalt in der Bevölkerung weitgehend verloren“, sagt der Arzt. Sie kümmere sich nicht um den Tod Tausender Zivilisten, sondern allein um den Erhalt ihrer Macht. Die Medien der Organisation brandmarken jeden Protest als „Verrat am palästinensischen Volk“, Demonstrierende gelten als „Agenten Israels“. Dieses Klima der Angst hat Tradition: Schon vor dem Krieg sei Gaza wie unter „Militärherrschaft“ gewesen, sagt der Mediziner. Eine Diktatur, die einst jedoch breite Unterstützung genoss – zumindest am Anfang.
Ein historischer Irrweg
Bei den Parlamentswahlen 2006 erhielt die Hamas rund 44 Prozent der Stimmen in den besetzten Gebieten. Viele palästinensische Analysten werteten das Ergebnis damals nicht als ideologische Zustimmung, sondern als Protestwahl gegen die Fatah und die von ihr dominierte Palästinensische Autonomiebehörde – zermürbt von Korruption und Inkompetenz. Die Folge: ein innerpalästinensischer Machtkampf, bei dem sich Israel eindeutig positionierte – zugunsten der Hamas. Die Regierung Netanjahu ermöglichte jahrelang finanzielle Transfers aus Katar nach Gaza, oft in bar, mit Koffern voller Dollar.
Diese Unterstützung gilt rückblickend als politischer Bumerang. Nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023, bei dem Hamas-Terroristen mehr als 1200 Menschen in Israel ermordeten, machten viele Israelis keinen Unterschied mehr zwischen der Hamas und der palästinensischen Bevölkerung. Präsident Isaac Herzog erklärte: „Es ist eine ganze Nation, die dafür verantwortlich ist.“
Kampf um Bilder, nicht um Menschen
Der Krieg läuft weiter – und mit ihm auch der Kampf um die Deutungshoheit. Israels Armee spricht von über 20.000 getöteten Hamas-Kämpfern. Doch der Eindruck einer geschwächten Organisation trügt mitunter: Als israelische Geiseln während eines temporären Waffenstillstands freigelassen wurden, erschienen sie in Begleitung bewaffneter Hamas-Kämpfer – ein kalkulierter Propagandaauftritt. Später zeigten Drohnenbilder, dass es sich dabei oft nur um kleine Gruppen handelte, die als Kulisse dienten.
„Wir gehen davon aus, dass die Hamas inzwischen fast genauso viele neue Kämpfer rekrutiert hat, wie sie verloren hat“, sagte US-Außenminister Antony Blinken im Januar. Eine Einschätzung, mit der beide Seiten gut leben können: Netanjahu, weil er weiterkämpfen kann – die Hamas, weil sie sich weiter als Widerstandskraft inszeniert.
Führer in Sicherheit, Zivilisten als Schutzschild
Während die Bevölkerung in Gaza leidet, sitzen viele Hamas-Führer im Ausland – in Katar oder in der Türkei. Von dort kommen Durchhalteparolen. Basem Naim, Hamas-Offizieller in Istanbul, warf Demonstrierenden vor, „Agenten fremder Mächte“ zu sein. Auf ihren Telegram-Kanälen empfiehlt die Hamas ihren Kämpfern, sich in Menschenmengen zu verstecken, wenn sie von israelischen Drohnen verfolgt werden. Zivilisten als Schutzschild – oder als Material für die eigene Propaganda, falls Israel trotzdem angreift.
Immer wieder feuert die Hamas kleinere Raketen auf Israel ab. Sie haben kaum militärischen Nutzen, werden meist abgefangen – doch sie verbreiten Angst. Vor wenigen Tagen schossen Kämpfer Raketen aus dem Flüchtlingslager Chan Yunis ab. Die israelische Armee reagierte mit Luftangriffen. Die Hamas zeigt anschließend die Opfer. Es ist ein blutiger Kreislauf, der keinen Sieger kennt.
Stimmen gegen die Angst
„Um den Krieg zu beenden, muss die Hamas die Macht abgeben“, sagt der Arzt. Andere Palästinenser kritisieren auch die Berichterstattung von Al Jazeera, dem einflussreichen Sender aus Katar. Dieser glorifiziere die Hamas und zeige kaum Proteste gegen sie. „Das ist Absicht“, sagte ein palästinensischer Journalist der israelischen Zeitung Haaretz.
Wie viele so denken, ist unklar. Eine neue Umfrage des palästinensischen Institute for Social and Economic Progress ergab, dass nur noch sechs Prozent der Bevölkerung in Gaza die Hamas unterstützen. Doch die Zahl basiert auf nur 400 Befragten – eine kleine, kaum repräsentative Stichprobe.
Eine größere Studie des Palestinian Center for Policy and Survey Research vom September 2024 – also vor den jüngsten Protesten – zeigte noch eine Zustimmung von 34 Prozent. Es ist denkbar, dass die tatsächliche Unterstützung inzwischen dramatisch gefallen ist.
Zwischen Hoffnung und Zerstörung
Der Analyst Ahmed Fouad Alkhatib vom Atlantic Council sieht in den Protesten eine historische Chance: „Die Wut der Menschen in Gaza könnte in eine neue Richtung gelenkt werden – in eine Zukunft ohne die Terrorgruppe Hamas.“ Doch zugleich warnt er: „Das israelische Militär tötet eine erschütternd hohe Zahl unschuldiger Zivilisten.“
Wer gegen die Hamas protestiert, tut das nicht nur in Angst vor Repressalien, sondern auch im Schatten der Bomben. Und doch: Der Ruf „barra, barra“ hallt weiter durch die Trümmer von Gaza – als Zeichen, dass ein Teil der Gesellschaft begonnen hat, die Hoffnung nicht aufzugeben.