Konya – für viele in der Türkei ist dieser Name mehr als nur der einer zentralanatolischen Stadt. Er steht synonym für konservative Werte, religiöse Frömmigkeit und unerschütterliche Loyalität gegenüber der Regierungspartei AKP. Wer an Konya denkt, denkt an Mevlana Dschalaluddin Rumi, den weltberühmten Sufi-Dichter, an Tekkes und Derwischorden, an endlose Weizenfelder und an eine Gesellschaft, die Tradition über Wandel stellt. Politisch ist die Stadt eine Festung: Seit über zwei Jahrzehnten dominiert hier Recep Tayyip Erdoğans Partei, bei der letzten Präsidentschaftswahl stimmten 73 Prozent der Wählerinnen und Wähler für ihn.
Doch ausgerechnet in dieser vermeintlich uneinnehmbaren Hochburg wagte sich die größte Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) mit einer lautstarken Kundgebung an die Öffentlichkeit. Der Anlass: der Protest gegen die Inhaftierung ihres Präsidentschaftskandidaten Ekrem İmamoğlu – des populären Bürgermeisters von Istanbul, der nach seiner Amtsenthebung wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten nun auch noch wegen eines umstrittenen Gerichtsurteils in Haft sitzt.
„Als wir sagten, wir würden nach Konya gehen, waren viele überrascht“, rief CHP-Parteichef Özgür Özel unter dem Jubel der Menge. „Man warnte uns: ‚Dort könnt ihr nicht hingehen. Es wird niemand kommen.‘ Aber ihr seid hier – Tausende seid ihr!“ Auf dem zentral gelegenen Kılıçaslan-Platz, eingerahmt von Moscheen und Geschäftspassagen, wehten an diesem Tag nicht nur Parteifahnen, sondern auch zahlreiche türkische Nationalflaggen und Porträts von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk. Ein symbolisches Bild: Die CHP beansprucht ihre Rolle als Hüterin der Republik – auch im Herzen des konservativen Anatoliens.
In den ersten Tagen nach İmamoğlus Festnahme konzentrierten sich die Proteste vor allem auf klassische CHP-Hochburgen wie Istanbul, Ankara oder Izmir. Doch die Resonanz blieb nicht auf das eigene Lager beschränkt. Die Repression gegen den populären Politiker, dem Kritiker schon länger zutrauen, Erdoğan bei Wahlen gefährlich werden zu können, hat eine Welle der Solidarität ausgelöst – weit über die klassischen Parteigrenzen hinaus.
Eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Metropoll zeigt: Nur 30 Prozent der Befragten glauben, dass İmamoğlu auch dann verhaftet worden wäre, wenn er nicht Präsidentschaftskandidat gewesen wäre. Diese Zahl offenbart ein tiefes Misstrauen gegenüber der Justiz – selbst unter AKP-Wählern. Dort glauben immerhin 56 Prozent, die Festnahme sei politisch motiviert. Bemerkenswert ist auch, dass 19 Prozent der bisherigen AKP-Wähler die Proteste für legitim halten. Die Strategie der Regierung, die Demonstrierenden zu diffamieren und als Unruhestifter abzustempeln, verfängt offenbar nicht.
Gleichzeitig steigen İmamoğlus Beliebtheitswerte kontinuierlich. Der frühere Bürgermeister, der als Brückenbauer zwischen säkularen und religiösen Milieus gilt, erfährt durch die Inhaftierung einen Popularitätsschub, der Erinnerungen an historische Oppositionsfiguren weckt.
Konya, die „Stadt mit Fischgedächtnis“, wie sie im Volksmund heißt, weil ihre Wähler sich über Missstände beklagen, am Wahltag aber wieder für Erdoğan stimmen – diese Stadt könnte zum Symbol eines beginnenden Wandels werden. Vielleicht nicht sofort, vielleicht nicht flächendeckend. Aber dass die Opposition hier Tausende mobilisieren konnte, zeigt: Das politische Monopol der AKP ist nicht mehr unangreifbar.
Diese Leute will der Parteichefhef mit seiner Rede in Konya erreichen. „Vor allem diejenigen außerhalb der Absperrgitter“, ruft der Parteichef mit seiner inzwischen zum Markenzeichen gewordenen heiseren Stimme. „Vielleicht sind sie keine Parteimitglieder, vielleicht haben sie noch nie für uns gewählt. Aber heute hören sie uns zu.“
„Wir setzen vor allem auf Frauen“, sagt Ismail Özkul, der bei einer Kundgebung Unterschriften für eine Freilassung İmamoğlus und für Neuwahlen sammelt. Frauen würden mehr als Männer an die Zukunft ihrer Kinder denken, glaubt der er. Und sie würden beim Einkaufen tagtäglich die Inflation spüren. In den vergangenen Tagen habe er Unterschriften in Geschäften gesammelt. Er frage immer erst die Kundinnen. Nur wenn sie zustimmten, würden auch die Ladenbesitzer unterschreiben. Viele Leute würden heimlich an der Kundgebung teilnehmen, ohne ihren Verwandten Bescheid zu geben, sagt Özkul. „Sie haben Angst, diskriminiert zu werden.“ Tatsächlich sprechen viele hier von der Angst, gefilmt zu werden. „Viele Frauen haben Angst, dass ihre Kinder ihre Jobs als Staatsbedienstete verlieren, wenn sie hierherkommen“, sagt eine Frau. Ein Rentner meint, die große Menschenmenge zeige, dass die Mauer der Angst durchbrochen sei.
Es ist nicht so, dass sich unter den Zuhörern viele als geläuterte AKP-Wähler zu erkennen geben. Aber man trifft Leute, die sagen, dass es solche in ihrer Verwandtschaft oder Nachbarschaft gebe. „Wir kennen viele, die es bereuen, für Erdoğan gestimmt zu haben“, sagt der lokale Chef der oppositionellen Gelecek-Partei, die sich 2019 von der AKP abgespalten hat. Er hat gerade seinen Namen auf die CHP-Unterschriftenliste gesetzt. Es gebe „ein langsames Aufwachen“ in Konya, sagt er.
In der konservativen Mitte Anatoliens hat es die CHP traditionell schwer. In Konya, wo Frömmigkeit und Tradition gesellschaftliche Leitwerte sind, haftete der sozialdemokratischen Oppositionspartei lange der Ruf an, sie blicke auf religiöse Menschen herab – ein Erbe der laizistischen Elitenrepublik, das sich tief ins politische Gedächtnis eingebrannt hat. Die Erinnerung an Zeiten, in denen Kopftuchträgerinnen aus Universitäten ausgeschlossen oder religiöse Gemeinschaften als rückständig verspottet wurden, wirkt hier bis heute nach. Entsprechend tief saß das Misstrauen gegenüber der CHP – und entsprechend schwer fiel es der Partei, in dieser Region überhaupt Fuß zu fassen.
Doch auf dem Kılıçaslan-Platz versucht Parteichef Özgür Özel, mit diesen Bildern zu brechen. In seiner Rede begegnet er dem religiösen Empfinden des Publikums mit demonstrativem Respekt. „Wir haben nie Konya die Schuld gegeben, sondern immer uns selbst“, sagt er. „Wir waren es, die Fehler gemacht haben. Wir haben nicht genug zugehört.“ Seine Worte sind versöhnlich, fast demütig. Immer wieder zitiert er den Mystiker und Dichter Mevlana Rumi, dessen Mausoleum nur wenige Kilometer entfernt liegt und der in Konya allgegenwärtig ist. Religion sei kein Gegensatz zur Demokratie, ruft Özel, sondern ihre Seele. Und dann ein Satz, der den Schmerz über die Verhaftung İmamoğlus mit dem religiösen Kalender verknüpft: „Am 18. März, als das ganze Land zum Fastenbrechen saß, hat man ihm sein Diplom geraubt.“ Ein Angriff zur heiligsten Zeit, so die implizite Botschaft – ein Akt der Ungerechtigkeit, der auch gläubige Muslime empören muss.
Tatsächlich ist Konya heute nicht mehr das monolithische Bollwerk, als das es oft beschrieben wird. Zwar bleibt es eine Hochburg der Konservativen, doch unter der Oberfläche ist Bewegung spürbar. Während des Ramadans sitzen tagsüber junge Menschen in Straßencafés, trinken Kaffee, essen Sandwiches – nicht aus Provokation, sondern weil eine neue Generation heranwächst, für die persönliche Frömmigkeit und gesellschaftliche Toleranz kein Widerspruch sind. Die vielen Universitäten der Stadt haben Zehntausende junge Leute aus der ganzen Türkei nach Konya gebracht. Sie verändern das Klima – leise, aber nachhaltig.
Dazu kommt eine wachsende Unzufriedenheit, die sich nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand äußert. Die wirtschaftliche Lage ist angespannt: Die Preise steigen, die Löhne stagnieren, viele Menschen kämpfen trotz Arbeit mit Armut. Zugleich mehren sich Klagen über eine Regierung, die den Bezug zur Realität verloren habe, über eine Justiz, die politisch instrumentalisiert werde, und über eine politische Klasse, die sich zunehmend selbstgefällig zeige.
Diese Mischung hat auch in Konya Spuren hinterlassen. Bei der Kommunalwahl im vergangenen Jahr, als die AKP landesweit einen historischen Dämpfer erlitt, verlor sie in der Provinz vier Bezirksverwaltungen an die CHP – ein Novum. Zwar bleibt sie hier insgesamt stark, doch die Risse im Fundament sind nicht mehr zu übersehen.
Die CHP will diesen Moment nutzen. In den kommenden Wochen plant die Partei, ihren Protest in weitere anatolische Städte zu tragen – von Kayseri bis Yozgat, von Afyon bis Aksaray. Ziel ist nicht nur, die Empörung über die Inhaftierung İmamoğlus am Köcheln zu halten, sondern die moralische Vorherrschaft der AKP im anatolischen Kernland zu erschüttern. „Wir müssen zeigen, dass die Republik nicht nur in Istanbul und Izmir lebt, sondern auch in Konya“, sagte ein CHP-Funktionär am Rande der Kundgebung.
Ob das gelingt, ist offen. Doch schon jetzt lässt sich sagen: Der Auftritt in Konya war mehr als ein symbolischer Akt. Er war ein vorsichtiger Versuch, die alten Fronten zu überwinden – und dort zuzuhören, wo man lange nur Widerstand erwartete. Vielleicht reicht das noch nicht für einen politischen Durchbruch. Aber es hat gereicht, um Zweifel zu säen. Und das allein ist, in einer Stadt wie Konya, bereits ein bemerkenswerter Anfang.