Ein Kommentar von Cem Ersin, Istanbul
„Erdoğan ist unser Vater, die Türkei ist unser Haus.“ Dieser Satz prangt seit Jahren als Graffiti auf Stromkästen, Brückenpfeilern oder Hauswänden in türkischen Städten und Dörfern. Mehr als bloße Verehrung, spiegelt er ein tief verankertes, generationsübergreifendes Staatsverständnis wider: Der Staat als übermächtige Vaterfigur, der gehorsam gebührt – und der nicht in Frage gestellt wird. Dieses autoritäre Staatsbild prägte die Republik lange, ganz gleich, wer an ihrer Spitze stand. Proteste blieben selten – bis jetzt.
Nach der umstrittenen Verhaftung des populären Oppositionspolitikers und Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu gingen erstmals seit den landesweiten Gezi-Protesten im Jahr 2013 wieder Hunderttausende auf die Straße. Es war ein Zeichen politischer Erschütterung. Polizeikräfte antworteten mit harter Repression: Tausende Demonstrierende wurden festgenommen, zahlreiche Gerichte verhängten Hausarrest oder Untersuchungshaft – oft mit vagen oder konstruierten Vorwürfen. Die Botschaft war eindeutig: Die alte Hierarchie soll nicht ins Wanken geraten.
An der Spitze dieser Hierarchie steht nach wie vor Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, der das politische System der Türkei in den vergangenen zwei Jahrzehnten entscheidend geprägt und umgebaut hat. Seit dem Jahr 2002 regiert er mit der von ihm mitbegründeten „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ – der AKP, von Anhängern gerne auch „AK Parti“ genannt. Das Kürzel ist doppeldeutig: „ak“ bedeutet im Türkischen so viel wie „rein“ oder „makellos“. Der Name der Partei ist Programm – zumindest in der eigenen Erzählung.
Erdoğan war – mit einer kurzen Unterbrechung – fast durchgehend Vorsitzender der AKP. Unter seinem Einfluss wurde sie zur dominanten politischen Kraft im Land. Anfangs trat die Partei mit dem Versprechen auf, konservative Werte mit Demokratie und wirtschaftlicher Modernisierung zu verbinden. Erdoğan ließ sich als Reformer feiern, der die Türkei näher an die EU führte und mit neoliberalen Reformen aus wirtschaftlicher Stagnation befreite. Vor allem in den 2000er Jahren genoss er breite Zustimmung – auch unter liberalen und westlich orientierten Bevölkerungsschichten.
Doch spätestens seit dem gescheiterten Putschversuch im Jahr 2016 hat sich das Machtgefüge verändert. Erdoğan nutzte die Krise, um seine Macht massiv auszuweiten, die Gewaltenteilung auszuhöhlen und Kritiker mundtot zu machen. Unter dem Vorwand der Terrorabwehr wurden Zehntausende entlassen, inhaftiert oder ins Exil gedrängt – darunter Journalisten, Wissenschaftler, Aktivisten, Offiziere und Richter. Die Türkei wurde zur Präsidialrepublik umgebaut, mit Erdoğan als Zentrum aller Entscheidungsgewalt.
Auch ökonomisch konzentriert sich die Macht zunehmend auf einen engen Kreis. Zahlreiche große Unternehmen, Banken, Baukonzerne und Medienhäuser stehen unter direktem oder indirektem Einfluss der AKP oder ihrer loyalen Netzwerke. Selbst viele Wohltätigkeitsorganisationen und Stiftungen agieren im Sinne der Partei. Wer sich diesem Geflecht widersetzt oder es öffentlich kritisiert, riskiert staatliche Repression oder wirtschaftliche Isolation.
Dennoch zeigen die jüngsten Proteste, dass Erdoğans Griff nach totaler Kontrolle nicht mehr ungebrochen ist. Die Verhaftung von İmamoğlu, der als möglicher Herausforderer bei den nächsten Präsidentschaftswahlen gilt, hat die politische Opposition neu mobilisiert. Viele Menschen – auch konservative – empfinden das Vorgehen gegen ihn als überzogen und ungerecht. In sozialen Medien mehren sich Stimmen, die ein Ende der politischen Einschüchterung fordern. Selbst innerhalb der AKP regt sich Unmut, wenn auch noch verhalten.
Die Türkei steht an einem politischen Scheideweg. Die Polarisierung im Land ist tief, die Wirtschaftskrise verschärft die soziale Lage, und die Jugend wendet sich zunehmend von traditionellen politischen Lagern ab. Erdoğan bleibt fest entschlossen, seine Macht zu sichern – notfalls mit allen Mitteln. Doch das politische Klima ist fragiler denn je. Der Protest gegen die Verhaftung İmamoğlus könnte zum Wendepunkt werden – oder im Keim erstickt. Noch ist offen, welches Narrativ sich durchsetzen wird: das vom „Vater Erdoğan“ – oder das eines erwachenden politischen Bewusstseins.
Wie weit der Einfluss heute reicht, zeigt eine Boykottliste der größten Oppositionspartei, CHP, der der verhaftete İmamoğlu angehört. Darauf stehen die Namen von Supermarktketten, Einkaufszentren, Medien, Restaurants, selbst Händler von Audi und Volkswagen sollen fortan gemieden werden.
Als der Chef der Oppositionspartei CHP Özgür Özel zu einem nationalen Boykotttag aufrief, blieben viele Läden und Cafés leer. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft begann Ermittlungen gegen Unterstützer der Aktion. Das Regierungslager ließ seinerseits Kabinettsmitglieder und bekannte AKP-Funktionäre wie den Ex-Fußballstar Mesut Özil demonstrativ einkaufen, Kaffee trinken und für den „Zusammenhalt der Nation“ werben.
Zwar sind in der Partei längst nicht alle zufrieden mit dem Kurs von Erdoğan, etwa mit den Demonstrationsverboten und dem harten Kurs gegen die Protestierenden. Mitglieder der Partei äußern sich aber bestenfalls in vertraulichen Gesprächen kritisch. Öffentlichen Dissens gibt es kaum. Finanzielle, persönliche und politische Abhängigkeiten haben sich über die Jahre tief ineinander verwoben. Sie halten die Partei zusammen wie ein dichtes Wurzelgeflecht.
Wenn sich in den vergangenen Tagen jemand traute, dann waren es meist Ehemalige. Der frühere Präsident und AKP-Mitbegründer Abdullah Gül warnte etwa kurz nach Beginn der Proteste, dass sie weder der Regierung noch der Opposition guttun würden. Andere, wie der frühere AKP-Bildungsminister Hüseyin Çelik, wurden in den sozialen Medien deutlicher: „Das Demonstrationsverbot hat unserer ohnehin unausgegorenen Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit irreparable Wunden zugefügt.“ Kritik kam auch vom ehemaligen AKP-Abgeordneten Hüseyin Kocabıyık. Gegen ihn wurde daraufhin ein Parteiausschlussverfahren eingeläutet. Der frühere AKP-Abgeordnete Mehmet Metiner sprach daraufhin vor wenigen Tagen in den sozialen Medien von einem „brutalen“ internen Widerstand. Der Vorsitzende, also Erdoğan, werde nicht nur alleingelassen, sondern auch noch angeschossen.
Das Verhältnis von AKP und Erdoğan ist ambivalent geworden. Einerseits schützt sie seine Macht. Andererseits wächst intern die Sorge, eines Tages mit ihm haftbar gemacht zu werden. Diese Befürchtungen können vorerst aber wohl vertagt werden. Das liegt vor allem an dem, was fernab der Proteste passiert ist. Wenige Tage nach der Festnahme İmamoğlus sprach Donald Trumps Sonderbeauftragte für den Nahen Osten, Steve Witkoff, von „guten Nachrichten aus der Türkei“. Zwei Tage danach besuchte der türkische Außenminister Hakan Fidan seinen US-Amtskollegen Marco Rubio. Berichten oppositioneller Medien in der Türkei zufolge sprach Fidan auch die Proteste an. „Machen Sie sich keine Sorge“, soll Rubio geantwortet haben. Währenddessen stellten wichtige US-Medien ihre Protestberichterstattung nahezu ein.
Unter US-Präsident Donald Trump leben die türkisch-amerikanischen Beziehungen auf. Bei Trumps jüngster Zollerhöhung kam die Türkei mit einem Satz von nur zehn Prozent glimpflich davon. Das könnte sie als internationalen Wirtschaftsakteur stärken. Auch der für den Posten des US-Botschafters in Ankara nominierte Thomas Barrack lobte die Türkei in einer Senatssitzung diese Woche. Er nannte sie ein „Zentrum der Kulturen, Religionen und des Handels“, eine künftige Drehscheibe für den Gastransport nach Europa, ein Schutzschild vor russischer Einmischung. Dank der Türkei könne selbst Chinas Seidenstraßenprojekt „vorübergehend“ in Schach gehalten werden.
Als regionaler Verbündeter der USA hat die Türkei gerade große Bedeutung. Trump bedrohte zuletzt den Iran. Auch die Türkei liegt mit dem Land im Konflikt. Solange die USA gegen den Iran vorgehen wollen, kann sich die türkische Regierung der Unterstützung aus Washington, D. C. sicher sein. Die frühere US-Diplomatin Nikki Haley betonte im Dezember in einem Fernsehinterview, dass die Türkei der Schlüssel für die Schwächung des Irans sei. Eine ähnlich wichtige Rolle habe das Land für einen Friedensprozess zwischen Russland und der Ukraine. Entgegenkommen könnten die USA der Türkei dafür in Syrien. Die USA unterstützen in Syrien kurdische Milizen, die von der türkischen Regierung als Ableger der verbotenen Kurdenpartei PKK betrachtet und auf syrischem Boden bekämpft werden.
Doch der Aufruf von PKK-Gründer Öcalan, dass die Gruppe sich auflösen soll, und die Reaktivierung der türkisch-amerikanischen Beziehungen können die Dynamik verändern. Ein Szenario, das im türkischen Sicherheitsapparat diskutiert wird: Die PKK-Miliz in der Region löst sich auf, die Türkei macht kurdischen Politikern gegenüber Zugeständnisse, stellt die Angriffe auf Kurden weitestgehend ein. Im Gegenzug erhält die türkische Regierung die Unterstützung der prokurdischen DEM-Partei. Mit ihren Stimmen wäre etwa eine Verfassungsänderung möglich, die Erdoğan seit Monaten anstrebt. Denn nach aktueller Gesetzeslage darf er nicht wieder als Präsidentschaftskandidat antreten. Das ist nicht unrealistisch. Die DEM-Partei beteiligte sich bisher kaum an den Protesten, obwohl auch aus ihren Reihen eine Vielzahl von Bürgermeistern in den vergangenen Monaten abgesetzt worden war.
Es gibt noch weitere Szenarien. Über eins sprach Ende März CHP-Chef Özgür Özel, als er Europas Schweigen anprangerte: Wer zu Hause für Demokratie sei und in der Türkei ihr Gegenteil unterstütze, solle wissen, dass die Regierung sich ändern werde, sagte Özel bei einer Kundgebung. Das ist jedoch das unwahrscheinlichste Szenario.
Unter Recep Tayyip Erdoğan hat sich die Türkei zu einem außenpolitischen Akteur entwickelt, der für die großen geopolitischen Mächte – sowohl im Westen als auch im Osten – schlichtweg zu wichtig geworden ist, um ernsthaft isoliert oder offen konfrontiert zu werden. Trotz autoritärer Tendenzen, innenpolitischer Repression und eines dramatischen Abbaus demokratischer Institutionen bleibt Ankara ein unverzichtbarer Partner: für die NATO im militärischen Süden des Bündnisses, für die EU in Fragen der Migration und Energie, und für Russland wie auch China als wirtschaftlich-strategischer Brückenkopf zwischen Asien, Europa und dem Nahen Osten.
Diese außenpolitische Relevanz sorgt für eine paradoxe Stabilität: Während die innenpolitischen Spannungen zunehmen, sorgt das internationale Interesse an einer funktionierenden Zusammenarbeit mit der Türkei dafür, dass substanzielle Kritik oder Druck ausbleiben. Symbolpolitik und mahnende Worte aus Brüssel, Berlin oder Washington stehen im Kontrast zu fortlaufenden diplomatischen Verhandlungen, Waffenlieferungen, Wirtschaftsdeals oder Rüstungsabkommen.
Vor diesem geopolitischen Hintergrund verblassen die aktuelle Protestwelle und der vereinzelte Unmut innerhalb der AKP rasch. Zwar zeigen sich innerhalb der Partei immer wieder Risse, besonders wenn es um wirtschaftliche Fehlentscheidungen oder die Rolle einzelner Familienclans im Machtapparat geht. Doch ein echtes Aufbegehren ist nicht in Sicht – zu groß ist die Abhängigkeit vom System Erdoğan, das Macht, Loyalität und wirtschaftliche Vorteile fest miteinander verknüpft. Solange Erdoğan lebt, bleibt auch die AKP das politische Werkzeug seiner Herrschaft – diszipliniert, formbar und jederzeit bereit, sich seinen Bedürfnissen anzupassen.
Die Straßengraffitis, die Erdoğan als „Vater“ und die Türkei als „Haus“ verklären, sind längst mehr als politische Parolen. Sie sind Teil eines verinnerlichten Staatsverständnisses, das persönliche Macht mit nationaler Identität verknüpft. So wie sich die Wandbilder nicht leicht entfernen lassen, scheint auch Erdoğan selbst nicht so schnell zu verschwinden – weder aus dem öffentlichen Raum noch aus der politischen Realität des Landes.
Solange er an der Macht bleibt, bleibt auch das politische System, das er geschaffen hat: ein Präsidialstaat, in dem die Gewaltenteilung aufgehoben, die Justiz politisiert und die Opposition unter Druck gesetzt ist. Die AKP bleibt in diesem Gefüge nicht etwa als unabhängige Partei bestehen, sondern als Projektionsfläche seines Willens. Erst wenn Erdoğan selbst politisch schwächelt oder verschwindet, könnte sich auch das Machtgefüge nachhaltig verändern.