Seit dem massiven Gewaltausbruch zwischen Israel und der Hamas am 7. Oktober 2023 ringt die Europäische Union um eine gemeinsame Linie im Umgang mit dem Gaza-Konflikt. Während einige Mitgliedstaaten Israel uneingeschränkt das Recht auf Selbstverteidigung zusprechen, fordern andere ein Ende der militärischen Gewalt und eine stärkere Beachtung des humanitären Völkerrechts. Der Konflikt offenbart einmal mehr die außenpolitischen Grenzen der EU – und stellt ihren Anspruch auf eine wertebasierte Außenpolitik auf die Probe.
Uneinigkeit in Brüssel
Zwar war die Verurteilung des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober, bei dem über 1.200 Israelis getötet und zahlreiche Geiseln genommen wurden, ein seltener Moment der Einigkeit in der EU. Doch über die israelische Militärreaktion im Gazastreifen, die nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza bislang Zehntausende zivile Opfer forderte, gehen die Meinungen weit auseinander. Länder wie Deutschland, Österreich und Tschechien betonen Israels Sicherheitsinteressen. Andere, darunter Spanien, Irland und Belgien, kritisieren das militärische Vorgehen als unverhältnismäßig und fordern eine sofortige Waffenruhe.
Diese Spannungen spiegelten sich auch in mehreren EU-Gipfeln wider, bei denen sich die Mitgliedstaaten teils auf die niedrigste gemeinsame Formel einigen mussten – etwa die gleichzeitige Forderung nach „humanitären Feuerpausen“ und die Anerkennung von Israels „Recht auf Selbstverteidigung“. Die EU-Außenpolitik bleibt damit erneut ein Spiegel nationaler Interessen statt eines klar definierten europäischen Kurses.
Humanitäre Hilfe – aber unter Vorbehalt
Trotz politischer Uneinigkeit zählt die EU zu den größten humanitären Geldgebern im Gazastreifen. Die Europäische Kommission kündigte allein im Jahr 2024 humanitäre Hilfen in Höhe von über 125 Millionen Euro an – etwa für medizinische Versorgung, Nahrungsmittel und Notunterkünfte. Gleichzeitig stoppte Brüssel zeitweise Zahlungen an das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA), nachdem Israel dem Hilfswerk vorgeworfen hatte, einige Mitarbeiter seien an den Hamas-Angriffen beteiligt gewesen. Erst nach einer internen Untersuchung und internationalem Druck nahm die EU einen Teil der Zahlungen wieder auf.
Diese Episode verdeutlicht das Dilemma der EU: Einerseits will sie humanitäre Hilfe leisten, andererseits steht sie unter innenpolitischem Druck, mögliche Verbindungen zu islamistischen Organisationen zu vermeiden – nicht zuletzt im Hinblick auf den wachsenden Einfluss rechtspopulistischer Parteien in Europa.
Vermittlungsrolle mit begrenztem Einfluss
In der Vergangenheit spielte die EU eine wichtige Rolle im Nahost-Friedensprozess – etwa als Teil des Nahost-Quartetts neben den USA, Russland und den Vereinten Nationen. Heute wird sie zunehmend an den Rand gedrängt. Die entscheidenden diplomatischen Fäden laufen in Washington, Kairo und Doha zusammen. Brüssel bleibt meist nur die Rolle des Finanzgebers und Mahners.
Zwar reiste EU-Außenbeauftragter Josep Borrell mehrfach in die Region und forderte unter anderem eine Zwei-Staaten-Lösung sowie die Einhaltung internationalen Rechts. Doch seine Äußerungen – etwa die Warnung vor einem „Gaza-Friedhof für internationale Glaubwürdigkeit“ – stießen innerhalb der EU selbst auf Widerspruch.
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Der Gaza-Krieg macht deutlich, wie sehr der europäische Anspruch einer „wertegeleiteten Außenpolitik“ an geopolitischen Realitäten scheitern kann. Solange die EU in der Nahostpolitik nicht mit einer Stimme spricht, bleibt sie für die Konfliktparteien ein Akteur von begrenzter Relevanz. Die politische Uneinigkeit innerhalb der Union – aber auch ihre Abhängigkeit von israelischer Kooperation, etwa bei Hilfslieferungen – schränken ihren Handlungsspielraum massiv ein.
Gleichzeitig wächst der Druck, eine kohärente Position zu finden. Angesichts wachsender Proteste in europäischen Städten, einer sich zuspitzenden humanitären Katastrophe in Gaza und dem Risiko einer regionalen Eskalation kann es sich die EU kaum leisten, in einer ihrer unmittelbaren Nachbarschaften dauerhaft als machtloser Zuschauer aufzutreten.